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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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war ausgefallen: Die Buchstaben drängten sich eng gegeneinander, als suchten sie aneinander Wärme und Geborgenheit. Sie waren stark nach links gekippt und schienen sich kaum entschließen zu können, die linierten Seiten zu füllen.
    Walter Sickert begann zu lesen. Er wusste schon bald, dass er diesen Fund sein Leben lang nicht mehr vergessen würde …
    15. August 1902, Mandalay, Burma
    Mein wirklicher Vater ist der fünfzehnte Earl von Tussleford, nicht der Trinker, mit dem meine Mutter für ein paar Jahre zusammenlebte. Sie sagt, ich bin eines aus einem guten Dutzend seiner unehelichen Kinder, und ich glaube nicht, dass er sich je die Mühe gemacht hat, meinen Namen zu erfahren oder zu behalten.
    Trotzdem habe ich kein Recht, mich über meinen Erzeuger zu beschweren. Seine finanziellen Zuwendungen kann man nur als großzügig bezeichnen, und wenn ich auch nie das Privileg genoss, die Luft seines adeligen Umfelds zu schnuppern, so erlaubte mir sein Geld, kombiniert mit der eisernen Sparsamkeit meiner Mutter, das Studium der Medizin, ohne das mein Leben zweifellos ein vollkommen anderes gewesen wäre. Als der Lebensgefährte meiner Mutter eines Tages zwei Pfund aus meinem Vermögen bei obskuren Wetten verspielt hatte, warf sie ihn kurzerhand aus dem Haus. Sie wollte, dass ich Arzt wurde, und ich tat ihr den Gefallen.
    Wenigstens für kurze Zeit, bevor ich meine wahre Berufung erkannte.
    Ich weiß nicht, ob meine Mutter glücklich wäre, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Hier in diesem fernen Land, unter Menschen, deren Gesichtszüge ihr vielleicht Angst einjagen würden. Ich habe ihr nicht geschrieben, wo ich mich aufhalte. Seit Herbst 1888 habe ich ihr nicht mehr geschrieben, und vermutlich denkt sie, ich sei längst tot.
    Vermutlich ist sie selbst längst tot.
    Diese Zeilen füge ich als eine Art Vorwort einem Tagebuch hinzu, das ich zwischen Juni und November 1888 verfasste. Wer immer es in die Hand bekommen wird, wird es ohne diese erläuternden Seiten nicht verstehen können. Es ist ein Dokument des Grauens. Von hundert Menschen, die es lesen, werden fünfzig glauben, der Teufel hätte es geschrieben. Neunundvierzig werden sagen, es stamme von einem Wahnsinnigen. Und nur der hundertste wird einen Sinn darin erkennen, einen tieferen Sinn, eine Wahrheit, die er vielleicht an anderen Stellen in seinem Leben bereits erahnte, die er spürte wie einen flüchtigen Hauch. Diese Wahrheit wird kaum irgendwo so deutlich greifbar sein wie in diesem Tagebuch. Deshalb ist es so wertvoll, trotz der furchtbaren Dinge, die darin beschrieben werden.
    Die Wahrheit ist Gott.
    Nur die Bibel allein sagt mehr über Gottes Wege als dieses Tagebuch. Wann immer diese Aufschriebe den Leser verwirren und abstoßen mögen, suche er Trost in der Heiligen Schrift. Gestärkt und ermuntert von den Worten des Herrn lese er weiter in diesen Seiten, und wenn er am Ende angelangt ist, wird er weiser sein als zuvor.
    So wie ich es heute bin.
    Ich bin nicht mehr der armselige Sünder, der diese Aufzeichnungen machte. Die Zeit unter Gottes Führung hat mich in einen neuen Menschen verwandelt. Auf die Turbulenzen, die mich zu verschlingen drohten, folgten ruhige Gewässer. Durch Jesus, den Sohn des Herrn, wurde ich wiedergeboren.
    Heute bin ich Alan Spareborne – ein katholischer Missionar von 48 Jahren, stationiert in einem wunderschönen Land, das man Burma nennt und in dem fremdartige buddhistische Mönche in langen roten Gewändern die Lehre Gottes verkünden. Nicht nur ihr Äußeres und ihre Sprache sind fremd, auch ihre Art zu denken und zu argumentieren ist es. Der Buddhismus ist eine Prüfung des Herrn. Nur, wer hinter den Schleier des Fremdartigen zu blicken vermag, erkennt in der fernöstlichen Lehre ein neues, frischeres Christentum, frei von verwirrenden Ornamenten und komplexen Symbolen – eine rohe und geradlinige Lehre.
    Heute bin ich also Alan Spareborne, doch zu der Zeit, als ich das Tagebuch schrieb, hatte mir die Öffentlichkeit andere Namen gegeben.
    „Leather Apron“ war einer davon – Lederschürze.
    Die weitaus meisten kannten mich unter dem hässlichen Namen „Jack the Ripper“, den mir ein anonymer Briefeschreiber gab und von dem es mich nicht überraschen würde, wenn er drüben, im Königreich, längst vergessen wäre.

5
    Walter Sickert schloss das Buch und öffnete es wieder. Wenn es sich um eine Fälschung handelte, war sie sauber gemacht: Das Buch war zweifellos einige Jahre alt, und das Papier konnte sich nur
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