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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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er auf Reisen war.
    Seit fünf Jahren lebte er in Frankreich, doch als seine Heimat sah er noch immer England an. Die Scheidung von seiner Frau war ein Auslöser für ihn gewesen, seine Lebensumgebung zu wechseln, und dies, obwohl sich die Londoner Öffentlichkeit eben für seine impressionistische Kunst zu interessieren begann. Der Gedanke, eines Tages in die britische Metropole zurückzukehren und dort erneut ein Studio zu eröffnen, begleitete ihn die ganzen Jahre über, und mehrmals fuhr er auf die Insel hinüber, um das sich wandelnde London anzusehen und Pläne für eine Rückkehr dorthin zu schmieden – die Schiffsverbindungen von Dieppe aus waren günstig.
    An diesem kühlen, regnerischen Frühlingstag bereitete es Sickert großes Vergnügen, die Menschen dabei zu beobachten, wie sie sich gegenseitig taxierten. Nicht nur Künstler verfügen über eine blühende Vorstellungskraft, und einige der illustren und exotischen Gestalten verführten selbst den nüchternsten Kaufmann zu kurzweiligen Tagträumen über die bizarren Abenteuer, die diese oder jene Person erlebt oder noch vor sich haben mochte.
    Walter Sickert fiel ein hagerer Mann mit leicht hervortretenden Augen auf, der das Gewand eines Geistlichen trug und den die Reise nach England sichtlich nervös machte. Dass der Maler diesen verhältnismäßig unscheinbaren Passagier während der ganzen Reise nach London immer wieder interessiert betrachtete, lag daran, dass er einen Schatten hatte.
    Ein kleiner, agiler Mann mit heller Haut und dunklen Haaren verfolgte offenbar jeden Schritt des Kirchenmannes. Nicht, dass er es auffällig und ungeschickt tat – vermutlich hatte weder der Beschattete noch irgendeiner der anderen Reisenden etwas bemerkt, doch dem geschulten Auge eines Malers konnte es nicht entgehen. Obwohl der kleine Kerl nicht explizit nach Ganove roch, umgab ihn die Aura des Verbrechens, und Sickert fragte sich, welches Interesse er an dem Geistlichen haben mochte. War der Kleriker reicher, als es den Anschein hatte?
    Als das Schiff in die Themse einfuhr und sich der Hauptstadt des britischen Empires näherte, wurden beide – der Beobachter und sein Objekt – zusehends unruhiger. Das Gesicht des Kirchenmannes zuckte vor Anspannung, während der kleine Kerl mit den dunklen Haaren fahrig in seinen Taschen kramte.
    Walter Sickert nahm sich vor, auch beim Aussteigen in der Nähe der beiden zu bleiben und herauszufinden, ob der Schatten seinem Opfer weiterhin folgen würde. Hinter der fröhlichen Bordkulisse verbarg sich die Andeutung einer kriminellen Tat, und der Maler, der sich keineswegs als Freizeitdetektiv verstand, war fasziniert von seiner eigenen Fähigkeit, das zu erkennen, was für andere unsichtbar blieb.
    Das Schiff legte an, und Sickert hatte alle Mühe, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren.
    Der Geistliche trug einen Koffer und eine kleine Tasche bei sich. Kaum war er von Bord gegangen, sah er sich unsicher um. Entweder, er wartete auf jemanden, oder er konnte sich nicht recht entscheiden, in welche Richtung er sich wenden sollte. Er musterte auffällig die Umgebung, wie jemand, der noch nie oder lange Zeit nicht mehr an diesem Ort gewesen war.
    Es war früher Abend, gerade eben sechs Uhr, doch der dunkle Himmel schien zusammen mit dem immer dichter fallenden Regen alles daran zu setzen, den Tag zur Nacht zu machen. Der Kirchenmann ging mit seinem Gepäck nach Norden davon, ohne eine Kutsche zu rufen. Der Kleinere, der nur eine Stofftasche bei sich trug, folgte ihm in einiger Entfernung.
    Walter Sickerts Herz begann zu pochen.
    Das Schiff hatte in der Nähe des Towers angelegt. Von dort aus war es in nördlicher Richtung nur eine halbe Meile bis zum Stadtteil Whitechapel, der vor anderthalb Jahrzehnten durch die traurige Serie grauenhafter Morde von sich reden gemacht hatte und – entgegen aller Bemühungen der Politiker und Anwohner – bis heute ein Schandfleck der Metropole geblieben war. Sickert hatte mehrere Male als Atelier in Frage kommende Räumlichkeiten in Whitechapel und dem benachbarten Bethnal Green besichtigt, sich jedoch trotz der verlockend niedrigen Preise nie entschließen können, dort einzuziehen. Die Armut und das florierende Nachtleben hatten ihn stets mehr abgestoßen als inspiriert.
    Zeit zum Nachdenken blieb ihm keine. Wollte er die Spur der beiden Männer nicht verlieren, musste er sich sputen. Er behielt den Verfolger stets im Auge; falls der Kleine sich umwandte und ihn entdeckte, musste er wohl
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