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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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oder übel aufgeben und einen anderen Weg einschlagen. Während er versuchte, sich die Position der Polizeistationen ins Gedächtnis zu rufen – für alle Fälle –, folgte er den beiden Männern durch den Regen in Richtung Norden. Der Geistliche bog in eine der dunkleren Seitengassen ein und begann plötzlich zu rennen. Sein Verfolger tat es ihm gleich. Es gab einen dumpfen Schlag, als der Fliehende seinen Koffer fallen ließ.
    „Mach keinen Unsinn“, keuchte der Maler im Selbstgespräch, und doch lief er den beiden hinterher, als wäre er durch einen unsichtbaren Marionettenfaden mit ihnen verbunden. Zwischen den engstehenden Häusern herrschte nahezu Finsternis. Die Gaslaternen standen nur vereinzelt und waren kein ernstzunehmender Gegner für die Dunkelheit.
    Kein Zweifel, der Kirchenmann hatte seinen Verfolger bemerkt und versuchte ihn abzuschütteln. Ein sinnloses Unterfangen – er war älter und unbeweglicher als der flinke Kleine, und seine weite Kleidung behinderte ihn bei jeder Bewegung. Was Walter Sickert nicht verstand, war der Hang des Fliehenden, die großen Straßen zu meiden und sich immer tiefer in den schlecht ausgeleuchteten Gassen zu vergraben. Die belebten Straßen Whitechapels waren nicht mehr weit und hätten ihm seinen Verfolger vom Hals schaffen können.
    Hätte Walter mehr Zeit zum Kombinieren gehabt, hätte er zu dem Schluss kommen müssen, dass der Geistliche diesen Teil Londons ausgesprochen gut zu kennen schien und außerdem alles daran setzte, nicht von einer großen Anzahl Menschen gesehen zu werden. In diesen gedankenlosen Augenblicken allerdings konnte der Kunstmaler sich nur darauf konzentrieren, den beiden zu folgen, ohne sich selbst der Entdeckung preiszugeben.
    Es dauerte nicht lange, da entledigte sich der Kirchenmann auch seiner Tasche. In hohem Bogen schleuderte er sie durch die Luft, und Sickert glaubte erkannt zu haben, wie sie knapp über eine Mauer hinweg flog und im Hinterhof landete, der sich daran vermutlich anschloss.
    Der kleinwüchsige Verfolger blieb für einen Moment stehen und schien die Höhe der Mauer abzuschätzen. Offenbar wägte er ab, welches von beidem ihm wichtiger war – die Tasche oder der Mann. Er entschied sich für den Mann, wohl, weil er annahm, zu einem späteren Zeitpunkt hierher zurückkehren und sich die Tasche sichern zu können. Den Kunstmaler, der seinerseits ihn verfolgte, hatte er nicht bemerkt.
    Walter Sickert verlangsamte seine Schritte. Er war außer Atem und gab die Verfolgung auf. Ihn interessierte die Tasche, denn dass sie von besonderer Relevanz war, stand außer Zweifel. Wie der Geistliche sie mit aller Kraft über die Mauer geschleudert hatte, sprach Bände.
    Während sich die Schritte der beiden Männer entfernten, erforschte Walter Sickert die Umgebung. Zwei Laternen erhellten den Ort, eine aus nächster Nähe, die andere vom Ende der Gasse her. Die Örtlichkeiten hinter der Mauer lagen gewiss in tiefster Finsternis, doch die dort hinabgefallene Tasche zu finden, würde auch ohne Licht keine Schwierigkeit darstellen.
    Es regnete noch immer. Das Straßenpflaster glänzte schwarz wie die Schuppenhaut eines Dämons, und die etwa mannshohe Mauer wirkte glitschig. Sickert wollte sich die Zeit, einen Zugang zu dem Hinterhof zu suchen, nicht gönnen. Wahrscheinlich war der Ort nur von der nächsten Parallelstraße aus zu erreichen, wo es möglicherweise von Passanten wimmelte. Hier war es ruhiger. Die Fenster der Nachbarhäuser waren bis auf ein oder zwei nicht erleuchtet, und niemand schien in diesen Minuten hinaus in den Regen zu sehen.
    Kurzentschlossen kletterte er über die Mauer und fand die Tasche in der aufgeweichten Erde des Innenhofes. Er presste sie an sich und nahm den gleichen Weg zurück über die Mauer. Seine Fußspuren würde der stetig stärker werdende Regen in kurzer Zeit verwischt haben.
    Mit klopfendem Herzen trat er den Weg zu einer Herberge im nahen Wapping an, wo er schon oft genächtigt hatte, wenn er in London weilte. Er hatte den festen Vorsatz, die Tasche noch im Verlauf dieser Nacht der Polizei zu übergeben, doch bevor er das tat, wollte er einen kurzen Blick auf ihren Inhalt werfen.

4
    Noch während er auf dem Weg zur Herberge war, fiel ihm auf, dass es schwierig werden würde, später Rechenschaft darüber abzulegen, wie er zu der Tasche gekommen war und warum er sie zunächst an sich genommen hatte. Als er durch den langen Flur zu der schmuddeligen Theke der Herbergsmutter ging und die alte Frau
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