Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
nicht, was er rufen sollte. Und schließlich gibt es jenen Schlag Menschen, deren Brust randvoll ist, deren Augen zuviel gesehen haben, als daß sich diese Flut in einigen zusammenhanglosen Aufschreien hätte ergießen können.
    Ich aber – ich schweige auch noch aus einem anderen Grund: Für mich sind diese Moskauer, die da auf den Stufen zweier Rolltreppen sich drängen, noch immer zu wenige – zu wenige ! Zweihundert, zweimal zweihundert Menschen würden hier meinen Klageschrei hören – was aber mit den zweihundert Millionen? … Ganz vage schwebt mir vor, daß ich irgendwann einmal auch zu den zweihundert Millionen sprechen werde …
    Einstweilen aber werde ich, der ich den Mund nicht aufbrachte, von der Rolltreppe ins Fegefeuer getragen.
    Und werde auch in der Station Ochotnyj rjad schweigen.
    Und beim Hotel Metropol den Mund nicht öffnen.
    Und nicht die Arme emporwerfen auf dem Golgatha des Lubjanka-Platzes …

    Ich erlebte wahrscheinlich von allen vorstellbaren Arten der Verhaftung die allerleichteste. Sie riß mich nicht aus den Umarmungen der Familie, sie entriß mich nicht dem uns so teuren heimischen Alltag. Eines mattmüden europäischen Februartages erwischte sie mich auf einer schmalen Landzunge an der Ostsee, wo wir die Deutschen oder, was unklar war, die Deutschen uns, umzingelt hielten – und beraubte mich lediglich der gewohnten Truppenabteilung samt der Eindrücke aus den letzten drei Kriegsmonaten.
    Der Brigadekommandeur beorderte mich zum Kommandoposten, bat mich aus irgendeinem Grunde um meinen Revolver, den ich ihm gab, nichts Böses ahnend – da stürzten aus der reglosen, wie gebannten Offiziersgruppe in der Ecke zwei Abwehrleute hervor, durchquerten mit einigen Sätzen das Zimmer: Vier Hände verkrallten sich gleichzeitig in den Stern auf der Mütze, in die Achselklappen, das Koppel, die Kartentasche; dazu riefen sie dramatisch:
    «Sie sind verhaftet!!!»
    Versengt, durchbohrt vom Scheitel bis zur Sohle, fiel mir nichts Klügeres ein als:
    «Ich? Weswegen?!»
    Obwohl es auf diese Frage üblicherweise keine Antwort gibt, o Wunder, ich bekam sie! Es verdient, erwähnt zu werden, weil es so gar nicht unseren Gepflogenheiten entspricht. Nachdem die Smersch -Leute aufgehört hatten, mich auszuweiden, wobei sie mir samt der Tasche meine schriftlichen politischen Betrachtungen wegnahmen und mich nun, irritiert durch das Klirren der Fensterscheiben im deutschen Granatfeuer, eiligst zum Ausgang hin bugsierten, hörte ich plötzlich jemanden zu mir sprechen – ja doch! Über diese blinde Mauer, die das schwer auf dem Raum lastende Wort «verhaftet» zwischen mir und den Zurückbleibenden errichtet hatte, über diese Pestwehr hinweg, die kein Wort mehr übertreten durfte, drangen zu mir die undenkbaren, märchenhaften Worte des Brigadekommandeurs:
    «Solschenizyn! Kehren Sie um.»
    Und ich, durch eine jähe Wendung aus den Händen der Smersch -Leute befreit, machte einen Schritt zurück. Ich kannte den Oberst kaum, er ließ sich nie zu simplen Gesprächen mit mir herab. In seinem Gesicht sah ich immer nur Befehl, Ungeduld, Zorn. Jetzt aber war es nachdenklich erhellt: War es Scham wegen er erzwungenen Teilnahme an einer schmutzigen Sache? War es Aufruhr gegen das lebenslange klägliche Sich-ducken-Müssen? Aus dem Kessel, in dem vor zehn Tagen seine Artillerieabteilung mit zwölf schweren Geschützen geblieben war, habe ich meine Aufklärungsbatterie fast ohne Verluste heil herausgebracht – sollte er sich nun wegen eines Fetzens abgestempelten Papiers von mir lossagen?
    «Haben Sie …», begann er mit Nachdruck, «einen Freund an der Ersten Ukrainischen Front?»
    «Halt! … Das ist verboten!» fuhren die beiden vom Smersch, ein Kapitän und ein Hauptmann, den Oberst an. Erschrocken duckte sich das Gefolge der Stabsoffiziere, als hätten sie Angst, einen Teil von des Chefs unglaublicher Leichtfertigkeit auf sich nehmen zu müssen (die Männer von der Polit-Abteilung machten Ohren – im Hinblick auf das gegen den Brigadekommandeur zu liefernde Material ). Immerhin, ich hatte genug gehört: Ich begriff sofort, daß ich wegen des Briefwechsels mit meinem Schulfreund verhaftet worden war, begriff auch, aus welcher Richtung ich die Gefahr zu erwarten hatte.
    Hier hätte er auch innehalten können, mein Sachar Georgijewitsch Trawkin! Doch nein! Noch muß er sich besudelt, noch brüskiert gefühlt haben, denn er erhob sich (niemals in jenem früheren Leben war er aufgestanden wegen mir!),
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher