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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Autoren: Alexander Solschenizyn
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durch blinden Gehorsam noch nicht vollends aufgeweicht waren, versuchten zwei Tschekisten am hellichten Tag auf dem Serpuchow-Platz eine Frau zu verhaften. Sie klammerte sich an einen Laternenpfahl, begann zu schreien, wollte nicht freiwillig mitgehen. Ringsherum versammelte sich eine Menschenmenge. (Was not tat, war so eine Frau, aber auch so eine Menge! Nicht jeder Passant senkte den Blick, nicht jeder versuchte vorbeizuhuschen!) Die sonst so fixen Kerle wurden sofort kleinlaut. Im Lichte der Öffentlichkeit können sie nicht arbeiten. Sie sprangen in ihr Auto und fuhren ab. (Die Frau hätte sofort auf den Bahnhof und wegfahren müssen! Sie ging aber nach Hause. Und wurde nachts auf die Lubjanka gebracht.)
    Doch über Ihre angsttrockenen Lippen kommt kein einziger Laut, und die vorbeiströmende Menge nimmt Sie und Ihre Henker, sorglos, wie sie ist, für promenierende Kumpane.
    Ich selbst hatte mehrmals Gelegenheit zu schreien.
    Es war am elften Tag meiner Verhaftung, als ich in Begleitung von drei Schmarotzern von der Armeeabwehr, denen ihre vier Beutekoffer eine größere Last waren als ich (daß sie sich auf mich verlassen konnten, hatten sie während der langen Fahrt bereits erfaßt), auf dem Bjelorussischen Bahnhof in Moskau ankam. Sie nannten sich Sonderbewachung, in Wahrheit störten sie die Maschinengewehre bloß, wo sie doch die vier zentnerschweren Koffer schleppen mußten – mit Sachen, die sie und ihre Vorgesetzten von der Smersch- Abwehr der 2. Bjelorussischen Front in Deutschland zusammengestohlen hatten und nun unter dem Vorwand, mich bewachen zu müssen, den Lieben in der Heimat brachten. Den fünften Koffer schleppte ich selbst, ohne jede Begeisterung: es waren darin meine Tagebücher und Werke – die Indizien meiner Untaten.
    Alle drei kannten sich in der Stadt nicht aus, so mußte ich den kürzesten Weg zum Gefängnis wählen, mußte ich sie selbst zur Lubjanka führen, wo sie niemals gewesen waren (ich aber verwechselte das Ganze mit dem Außenministerium).
    Nach einem Tag in der Armeeabwehr; nach drei Tagen in der Frontabwehr, wo mich die Zellengenossen bereits aufgeklärt hatten (darüber, wie die Untersuchungsrichter lügen, drohen und prügeln; darüber, daß keiner, einmal verhaftet, wieder freigelassen wird; daß die zehn Jahre unentrinnbar feststehen), fand ich mich plötzlich wie durch ein Wunder in der freien Welt. Vier Tage lang fuhr ich als Freier unter Freien durchs Land, obwohl mein Körper bereits auf faulendem Stroh neben dem Latrinenkübel gelegen, obwohl meine Augen bereits die Geprügelten und Schlaflosen gesehen, meine Ohren die Wahrheit vernommen, mein Mund vom Häftlingsfraß gekostet hatte – warum also schweige ich? Warum schleudere ich nicht die Wahrheit in die betrogene Menge, jetzt, in meiner letzten öffentlichen Stunde?
    Ich schwieg in der polnischen Sadt Brodnica – mag sein, sie verstanden dort kein Russisch? Kein Wort rief ich auf den Straßen von Bialystok – mag sein, dies alles ging die Polen gar nichts an? Keinen Laut verlor ich auf der Station Wolkowysk – doch die war fast menschenleer. Wie selbstverständlich spazierte ich mit den drei Banditen über den Bahnsteig von Minsk – doch der Bahnhof war zerstört. Nun aber führe ich die drei Smersch -Leute durch die weißbekuppelte runde Eingangshalle der Metrostation Bjelorusskaja, eine Flut von elektrischem Licht, und von unten herauf, uns entgegen, über parallel laufende Rolltreppen, zwei Ströme dichtgedrängter Moskauer. Es kommt mir vor, als schauten sie mich alle an! Sie werden heraufgetragen, eine endlose Reihe, aus den Tiefen des Nichtwissens unter die strahlende Kuppel – zu mir, um ein winziges Wörtchen Wahrheit zu erfahren – warum schweige ich denn?
    Aber jeder hat immer ein Dutzend wohlgefälliger Gründe parat, die ihm recht geben, daß er sich nicht opfert.
    Der eine hofft noch immer auf einen glimpflichen Ausgang und fürchtet, sich durch Schreie die Chancen zu verbauen (wir haben ja keine Nachricht aus der jenseitigen Welt, wir wissen ja nicht, daß sich unser Schicksal vom Augenblick der Verhaftung an für die schlechteste Variante entschieden hat und es nichts mehr daran zu verschlimmern gibt). Die anderen sind noch nicht reif für Begriffe, die sich zu Warnrufen an die Menge zusammenfügen könnten. Denn einzig der Revolutionär trägt seine Losungen auf den Lippen und läßt ihnen freien Lauf; woher kämen sie dem gehorsamen, unberührten Durchschnittsbürger? Er weiß einfach
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