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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Autoren: Alexander Solschenizyn
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vermuteter Böswilligkeit des zu Fassenden ist es besser, ihn in Absonderung zu verhaften, fern von der gewohnten Umgebung, von der Familie, den Kollegen, den Gleichgesinnten und den Geheimverstecken: daß er nicht die Zeit habe, etwas zu vernichten, zu verbergen, zu übergeben. Hohe Würdenträger in Partei und Armee wurden bisweilen an andere Orte versetzt; per Salonwagen auf die Reise geschickt und unterwegs verhaftet. Irgendein namenloser Sterblicher hingegen, ein angstgeschüttelter Zeuge der Verhaftungen rundum, den schiefe Blicke seiner Vorgesetzten seit einer Woche schon Böses ahnen ließen, wird plötzlich zum Gewerkschaftsrat beordert, wo man ihm strahlend einen Reisebonus für ein Sanatorium in Sotschi überreicht. Er dankt, er eilt jubelnd nach Hause, um den Koffer zu packen. In zwei Stunden fährt der Zug, er schilt die umständliche Gattin. Und schon am Bahnhof! Noch bleibt Zeit. Im Wartesaal oder an der Theke, wo er rasch ein Bier kippt, wird er von einem überaus sympathischen jungen Mann angesprochen: «Erkennen Sie mich nicht, Pjotr Iwanytsch?» Pjotr Iwanytsch wird verlegen: «Eigentlich nicht … ich weiß nicht recht …» Der junge Mann ist ganz freundschaftliches Entgegenkommen: «Aber, aber, Sie werden sich gleich erinnern …» Und mit ehrfürchtiger Verbeugung zur Gattin hin: «Verzeihen Sie bitte, ich entführe Ihren Gatten bloß für einen Augenblick …» Die Gattin gestattet, der Unbekannte hakt sich bei Pjotr Iwanytsch vertraulich unter und führt ihn ab – für immer oder für zehn Jahre.
    Der Bahnhof aber lebt sein hastiges Leben – und merkt nichts … Mitbürger, die Ihr gern Reisen unternehmt! Vergeßt nicht, daß es auf jedem Bahnhof einen Außenposten der GPU gibt mit einigen Gefängniszellen dazu.
    Diese Aufdringlichkeit angeblicher Bekannter ist so ungestüm, daß es einem Menschen ohne wölfische Lagererfahrung einfach schwerfällt, sie abzuschütteln. Glauben Sie bloß nicht, daß Sie, wären Sie auch ein Angestellter der Amerikanischen Botschaft, namens, sagen wir Al-der D., davor gefeit sind, am hellichten Tage auf der Gorkistraße beim Hauptpostamt verhaftet zu werden. Da kommt er schon auf Sie zugestürzt, Ihr unbekannter Freund, mit ausgebreiteten Armen, durch die dichte Menge: «Sascha!» ruft er ganz ungeniert. «Ewig dich nicht gesehen! … Schau, wir stehn im Weg, komm doch zur Seite.» Doch wo er Sie hinzieht, an den Rand des Gehsteigs, da ist eben eine Pobeda vorgefahren … (Einige Tage danach wird die TASS voller Entrüstung erklären, es sei über das Verschwinden des Al-der D. in kompetenten Kreisen nichts bekannt.) Ach, wozu viel reden! Unsere Prachtkerle erledigten solche Verhaftungen sogar in Brüssel (so erwischten sie Schora Blednow), da ist Moskau nichts dagegen.
    Man muß den Organen Gerechtigkeit widerfahren lassen: In einer Zeit, da Festreden, Theaterstücke und Damengarderoben den Stempel der Serienproduktion zu tragen scheinen, zeigt sich die Verhaftung in vielfältigem Gewand. Man winkt Sie beiseite, nachdem Sie eben am Fabrikstor Ihren Passierschein vorgewiesen haben – und drin sind Sie; man schleppt Sie aus dem Lazarett mit 39 Grad Fieber fort (Ans Bernstein), und der Arzt hat nichts gegen Ihre Verhaftung einzuwenden (soll er’s nur versuchen!); man verhaftet Sie vom Operationstisch weg, auf dem Sie wegen eines Magengeschwürs lagen (N. M. Worobjow, Gebietsschulinspektor, 1936) – und bringt Sie, mehr tot als lebendig, blutverschmiert in die Zelle (so erinnert sich Karpunitsch); Sie bemühen sich um eine Besuchsbewilligung (Nadja Lewitskaja) bei Ihrer abgeurteilten Mutter, man gewährt sie Ihnen – und dann erweist sich der Besuch als Gegenüberstellung und Verhaftung! Im großen Lebensmittelgeschäft Gastronom werden Sie in die Bestellabteilung gebeten und dort verhaftet; ein Pilger verhaftet Sie, der um Christi willen Beherbergung bei Ihnen erbat; ein Monteur verhaftet Sie, der gekommen ist, den Gaszähler abzulesen; ein Radfahrer, der auf der Straße in Sie hineinfuhr; ein Eisenbahnschaffner, ein Taxifahrer, ein Schalterbeamter der Sparkasse und ein Kinodirektor – sie alle verhaften Sie, der Sie zu spät den gut versteckten weinroten Ausweis erblicken.
    Manch eine Verhaftung gleicht einem Spiel: Unerschöpflich ist der darin investierte Erfindergeist, unversiegbar die saturierte Energie, aber das Opfer, das würde sich ja auch sonst nicht wehren. Ob die Einsatzkommandos auf diese Weise ihren Sold und ihre Vielzahl rechtfertigen
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