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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Autoren: Alexander Solschenizyn
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wogegen sich eigentlich wehren? Dagegen, daß sie dir den Hosengürtel abnehmen? Daß sie dir befehlen, in der Ecke stehen zu bleiben – oder das Haus zu verlassen? Der Abschied besteht aus vielen winzigen Rundherums, aus zahllosen Nichtigkeiten, um die im einzelnen zu streiten wohl keinen Sinn hätte (derweilen die Gedanken des Verhafteten um die einzige gewaltige Frage kreisen: «Wofür?») – doch all dieses Nebensächliche fügt sich unabwendbar zur Verhaftung zusammen.
    Ja, wer weiß denn überhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt! – Dies allein verdiente ein eigenes Buch. Da fänden sich Gefühle, die wir gar nicht vermuten würden. Als im Jahre 1921 die neunzehnjährige Jewgenija Dojarenko verhaftet wurde und drei Tschekisten ihr Bett und ihre Kommode durchwühlten, blieb sie ruhig und gelassen: Wo nichts ist, werden sie nichts finden. Plötzlich stießen sie auf ihr intimes Tagebuch, das sie selbst der Mutter nicht gezeigt hätte, und dies allein: daß feindselige fremde Kerle darin lesen konnten, erschütterte sie stärker als die ganze Lubjanka mit ihren Gitterfenstern und Verliesen. Wo die Verhaftung solche persönlichen Gefühle und Regungen aufrührt, tritt für viele sogar die Angst vor dem Gefängnis in den Hintergrund. Ein Mensch, der innerlich nicht auf Gewalt vorbereitet ist, wird dem Gewalttäter gegenüber stets den kürzeren ziehen.
    Nur wenige ganz Schlaue und Waghalsige vermögen prompt zu reagieren. Der Direktor des Geologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Grigorjew, den sie 1948 abholen kamen, verschanzte sich in seiner Wohnung und hatte zwei Stunden Zeit, Dokumente zu verbrennen.
    Manchmal aber ist das erste Gefühl des Festgenommenen jenes der Erleichterung, ja sogar der FREUDE! Auch das liegt in der Natur des Menschen. Und ist auch früher schon vorgekommen: Die in Sachen Alexander Uljanow gesuchte Lehrerin Serdjukowa aus Jekaterinodar fand ihre Ruhe erst wieder, als sie verhaftet wurde. Doch tausendfach wiederholte es sich in Zeiten von Verhaftungsepidemien: Wenn rundum zu Dutzenden Leute verhaftet werden, die so sind wie du, hier einer und dort einer, aber dich holen sie nicht, dich lassen sie noch zappeln – da leidest du mehr, als wenn sie dich schon verhaftet hätten, da finden sich am Ende auch die Willensstärksten total zermürbt. Wassilij Wlassow, ein furchtloser Kommunist, von dem im folgenden noch öfter die Rede sein wird, hatte es, entgegen den guten Ratschlägen seiner parteilosen Mitarbeiter, abgelehnt, die Flucht zu ergreifen, und litt unsäglich darunter, daß sie ihn, der allein von der gesamten Leitung des Kadyjsker Bezirkes (1937) in Freiheit geblieben war, durchaus nicht holen wollten. Er hätte dem Angriff gern ins Auge gesehen, konnte es nicht anders, beruhigte sich erst, als der Schlag erfolgt war, und fühlte sich in den ersten Tagen nach der Verhaftung so wohl wie schon lange nicht mehr.
    Vater Iraklij, ein Geistlicher, fuhr 1934 an Alma-Ata, um die dorthin verbannten Gläubigen zu besuchen; unterdessen wurde er zur Verhaftung ausgeschrieben und dreimal in seiner Moskauer Wohnung gesucht. Als er zurückkam, wurde er am Bahnhof von Mitgliedern seiner Gemeinde abgefangen und nicht nach Hause gelassen: Acht Jahre lang versteckten sie ihn von Wohnung zu Wohnung. Am Ende war er von diesem gehetzten Leben derart entnervt, daß er freudig Gott pries, als sie 1942 seiner doch noch habhaft wurden.
    «Widerstand! Wo war euer Widerstand?» – So werden heute die Betroffenen von den Verschontgebliebenen getadelt.
    Gewiß, hier hätte er beginnen müssen, bei der Verhaftung selbst.
    Und hatte nicht begonnen.
    So werden sie denn abgeführt. Bei einer jeden Tagesverhaftung gibt es diesen kurzen, unwiederbringlichen Augenblick, da Sie – getarnt, nach feiger Absprache, oder auch ganz offen, mit gezückten Pistolen – durch eine hundertköpfige Menge von ebenso unschuldigen und verlorenen Menschen geführt werden. Ihr Mund ist nicht geknebelt! Sie können schreien, hätten unbedingt schreien müssen! Brüllen, daß Sie verhaftet wurden! Daß verkleidete Männer auf Menschenjagd ausgehen! Daß eine falsche Anzeige genügt, um eingesperrt zu werden! Daß in aller Stille Millionen mundtot gemacht werden! Und solche Schreie zu jeder Stunde und an allen Ecken und Enden einer Stadt – sie hätten unsere Mitbürger vielleicht aufhorchen lassen? sie gezwungen aufzubegehren? die Verhaftung um einiges erschwert?
    Im Jahre 1927, als unsere Gehirne
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