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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
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»Bitte, Mrs. Fontaine. Noch eine Minute, mehr wird nicht nötig sein.«
    »Lassen Sie mich gehen.«
    »Mrs. Fontaine …«
    »Lassen Sie mich gehen!«, verlangte sie entschieden.
    Ihr scharfer Ton schien ihn zu schockieren. Er ließ sie los, trat aber nicht zurück. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht bedrängen. Ich befürchtete nur, dass … nun …«
    »Ja?« Sie sah in seine hellgrauen Augen. Etwas, das sie darin erblickte – Festigkeit, Kraft –, erweckte in ihr wider Willen den Wunsch, ihm vertrauen zu können. »Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, wenn Sie das befürchtet hatten«, sagte sie. »Bitte, ich möchte jetzt nach Hause.«
    »Ja, natürlich. Aber ich habe noch einige Fragen.«
    »Und ich keine Antworten darauf. Begreifen Sie das nicht?«
    Nick schwieg einen Moment. »Dann werde ich mich später mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte er. »Wir müssen uns über die Begräbnisformalitäten unterhalten.«
    »Oh, ja. Das Begräbnis.« Sarah stand auf und unterdrückte eine neue Flut von Tränen.
    »Ich werde Sie mit unserem Wagen nach Hause bringen lassen, Mrs. Fontaine.« Er kam langsam auf sie zu, als fürchte er, sie zu erschrecken. »Es tut mir Ihres Gatten wegen leid. Wirklich leid. Bitte, rufen Sie mich an, falls Sie irgendwelche Fragen haben sollten.«
    Sarah wusste, dass keines seiner Worte aus dem Herzen gesprochen war, dass keines echtes Mitleid enthielt. Nicholas O’Hara war Diplomat und sagte, was man ihm beigebracht hatte. Um welche Katastrophe es auch gehen mochte, das US-Außenministerium fand stets die passenden Worte. Wahrscheinlich hatte er dieselben Sätze schon zu Hunderten von Witwen gesagt.
    Jetzt wartete er auf ihre Antwort. Sie tat, was von jeder Witwe erwartet wurde: Sie riss sich zusammen. Sarah nahm seine ausgestreckte Hand und dankte ihm. Dann drehte sie sich um und verließ das Büro.
    »Glaubst du, sie weiß es?«
    Nick starrte auf die Tür, die gerade hinter Sarah Fontaine ins Schloss gefallen war. Er drehte sich zu Tim Greenstein um. »Was soll sie wissen?«
    »Dass ihr Mann ein Spion war?«
    »Aber das wissen doch selbst wir nicht genau.«
    »Mein lieber Nick, diese ganze Geschichte stinkt nach Spionage. Bis vor einem Jahr war Geoffrey Fontaine ein total unbeschriebenes Blatt. Dann taucht sein Name plötzlich auf einer Standesamtsliste auf, er hat eine brandneue Sozialversicherungsnummer, einen Pass und was sonst noch. Das FBI scheint nicht das Geringste zu wissen, aber der Geheimdienst führt seine Akte als Verschlusssache! Bin ich blöd oder was?«
    »Vielleicht bin ich der Dumme«, brummte Nick. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Dann warf er einen finsteren Blick auf das Fontaine-Dossier. Natürlich hatte Tim Recht. Die Sache stank zum Himmel. Spionage? Internationales Verbrechen? Ein ehemaliger Zeuge, der sich vor Verfolgern verbarg?
    Wer zum Teufel war dieser Geoffrey Fontaine?
    Nick rutschte tiefer in den Sessel und legte den Kopf gegen die Rückenlehne. Er war schrecklich müde. Aber Geoffrey Fontaine ging ihm nicht aus dem Kopf. Und Sarah Fontaine ebenso wenig.
    Er war überrascht gewesen, als sie in sein Büro gekommen war. Er hatte eine aufgetakelte Dame erwartet. Ihr Mann war viel herumgekommen. An seiner Seite hätte man mit einer schicken und eleganten Frau gerechnet. Stattdessen war diese magere, eigenwillige Gestalt hereingekommen, die beinahe – aber nur beinahe – hübsch zu nennen war. Ihr Gesicht hatte zu viele Kanten: hohe, scharfe Wangenknochen, eine schmale Nase, die breite Stirn. Ihr langes, fülliges Haar war kupferrot und sah selbst streng zurückgekämmt schön aus. Ihre Hornbrille hatte ihn irgendwie belustigt. Dahinter lagen zwei bernsteinfarbene Augen – das Schönste an ihrem ganzen Gesicht. So ganz ohne Make-up und mit der bleichen, zarten Haut wirkte sie viel jünger als die schätzungsweise dreißig Jahre, die sie bestimmt war.
    Nein, sie war wirklich nicht hübsch. Doch das ganze Gespräch über hatte Nick sie ansehen müssen und sich Gedanken über ihre Ehe gemacht. Und über sie. Sarah Fontaine.
    Tim stand auf. »Hey, diese ganze Traurigkeit macht mich hungrig. Lass uns in die Kantine gehen.«
    »Nicht dahin. Lass uns ausgehen.« Nick zog sich seine Jacke an, und zusammen verließen sie das Büro, gingen an Angie vorbei und auf die Treppe zu.
    Als sie draußen über die Straße gingen, blies ihnen der frische Frühlingswind ins Gesicht. An den Kirschbäumen standen
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