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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
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die Knospen kurz vor dem Aufbrechen. In einer Woche würde die ganze Stadt in einem rosafarbenen und weißen Blütenmeer ertrinken.
    »Wohin gehen wir, Nick?«, fragte Tim.
    »Was hältst du von Mary Jo?«
    »Dieser Bioladen? Warum, machst du eine Diät oder so etwas?«
    »Nein, aber dort ist es ruhig. Ich möchte im Moment keinen Lärm um mich haben.«
    Nach zwei Häuserblocks hatten sie das Restaurant erreicht und nahmen an einem Tisch Platz. Fünfzehn Minuten später brachte die Kellnerin ihnen die mit hausgemachtem Dressing angerichteten Salate.
    Tim piekste mit der Gabel hinein und seufzte. »Dieses Kaninchenfutter! Da ziehe ich ja selbst einen fettigen Hamburger noch vor!« Er stopfte sich etwas Salat in den Mund und sah Nick über den Tisch hinweg an. »Also, was fällt dir auf die Nerven? Geht dir der neue Posten bereits gegen den Strich?«
    »Das war eine gewaschene Ohrfeige und nichts anderes«, erklärte Nick bitter. Er trank seine Tasse Kaffee aus und bat die Kellnerin, ihm noch einen Kaffee zu bringen. »Vom zweitwichtigsten Londoner Posten verbannt man mich zum Papieresortieren hier in Washington.«
    »Warum bist du dann nicht zurückgetreten?«
    »Genau das überlege ich. Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt dieses Ekel Ambrose vor der Nase habe!«
    »Ist er noch verreist?«
    »Noch eine Woche. So lange kann ich den Job immerhin auf meine Art machen, ohne den ganzen bürokratischen Unsinn.«
    Vom ersten Tag an waren Nick und Ambrose nicht miteinander ausgekommen. Charles Ambrose liebte die bürokratische Umständlichkeit, während Nick stets darauf bestand, gleich zur Sache zu kommen, wie unangenehm sie auch sein mochte. Eine Konfrontation war also unvermeidlich.
    »Dein Problem ist, Nick, dass du zwar studiert hast, aber nicht so überkandidelt daherredest wie all die anderen. Du hast die alle durcheinandergebracht. Man schätzt hier keine Leute, die Klartext reden. Außerdem bist du auch noch überzeugter Liberaler.«
    »So? Du doch auch.«
    »Aber ich gelte ohnehin als notorischer Trottel, dem man vieles nachsieht. Und sollte man das nicht tun, dann blockiere ich ihnen einfach ihre Computer.«
    Nick lachte und freute sich plötzlich über die Gesellschaft seines alten Kumpels Tim. Die vier Jahre, die sie während des Studiums Zimmergenossen gewesen waren, hatten eine starke Bindung hinterlassen. Selbst nach acht Jahren Auslandsaufenthalt fand Nick nach seiner Rückkehr Tim Greenstein noch genauso jovial und liebenswert wie früher.
    Er nahm seine Gabel und aß seinen Salat zu Ende.
    »Wie willst du dich also im Fall Fontaine verhalten, Nick?«, fragte Tim während der Nachspeise.
    »Ich werde meine Arbeit tun und mich mit der Sache befassen.«
    »Wirst du es Ambrose sagen? Er wird darüber informiert werden wollen. Ebenso wie die Typen von der Firma, falls sie es nicht ohnehin schon wissen.«
    »Das können die selbst herausfinden. Es ist mein Fall.«
    »Auf mich wirkt es wie Spionage, Nick. Das ist nicht gerade eine konsularische Angelegenheit.«
    Der Gedanke jedoch, Sarah Fontaine an irgendeinen CIA-Untersuchungsbeamten weiterzureichen, gefiel Nick gar nicht. Sie wirkte so zerbrechlich, so verletzbar. »Es ist mein Fall«, wiederholte er.
    Tim grinste. »Ach, die Witwe Fontaine. Könnte es sein, dass sie dein Typ ist? Obwohl ich nicht ganz sehe, was du an ihr finden könntest. Und was ich noch weniger begreife, ist, wie sie sich diesen Mann geangelt hat. Das war doch wirklich ein blonder Adonis! Bestimmt nicht der Typ, der hinter Frauen mit Hornbrillen her war. Meine Schlussfolgerung ist, er hat sie aus anderen als den üblichen Gründen geheiratet.«
    »Den üblichen? Meinst du Liebe?«
    »Nicht doch – Sex.«
    »Worauf zum Teufel willst du hinaus?«
    »Hm. So empfindlich? Du magst sie, nicht wahr?«
    »Kein Kommentar.«
    »Mir scheint, dein Liebesleben liegt seit deiner Scheidung reichlich brach.«
    Nicks Kaffeetasse klirrte, als er sie hinstellte. »Was sollen eigentlich all diese Fragen?«
    »Ich versuche nur herauszufinden, was mit dir los ist, Nick. Hast du nicht davon gehört? Es ist jetzt in: Männer schütten sich gegenseitig ihr Herz aus.« Tim sah seinen Freund mitfühlend an. »Ich muss dir leider sagen, Nick, dass du etwas dagegen machen solltest. Du kannst nicht einfach herumsitzen und den Rest deines Lebens als Einsiedler verbringen.«
    »Weshalb nicht?«
    Tim lachte. »Weil wir beide, verdammt noch mal, zu gut wissen, dass auch du bestimmte Bedürfnisse hast!«
    Tim hatte Recht.
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