Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
als die Tränen kamen. Stumm nickte sie mit dem Kopf. Die Brille rutschte ihr von der Nase und fiel in ihren Schoß. Blind suchte sie in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und merkte plötzlich, dass Nick O’Hara von irgendwoher eine ganze Schachtel Papiertücher geholt hatte.
    »Nehmen Sie«, sagte er leise.
    Er beobachtete sie, als sie sich die Tränen abwischte und irgendwie versuchte, sich auf eine dezente Weise zu schnäuzen. Unter seinem aufmerksamen Blick kam sie sich albern und linkisch vor. Selbst ihre Finger gehorchten ihr nicht richtig. Die Brille rutschte ihr jetzt vom Schoß und fiel auf den Boden. Ihre Tasche wollte nicht zuschnappen. Sie musste hier heraus. Sarah suchte hastig ihre Sachen zusammen und stand auf.
    »Bitte, Mrs. Fontaine, nehmen Sie wieder Platz. Ich bin noch nicht ganz fertig«, sagte Nick.
    Wie ein gehorsames Kind kehrte Sarah zu ihrem Stuhl zurück und starrte zu Boden. »Falls es sich um die Begräbnisformalitäten handeln sollte …«
    »Nein, darum können Sie sich später kümmern, wenn die Leiche zurückgeflogen worden ist. Da ist etwas anderes, was ich Sie fragen muss. Es handelt sich um die Reise Ihres Mannes. Warum war er in Europa?«
    »Geschäftlich.«
    »Welcher Art?«
    »Er war … Vertreter der Bank von England.«
    »Also viel auf Reisen?«
    »Ja, das stimmt. Ungefähr einmal im Monat war er in London.«
    »Nur in London?«
    »Ja.«
    »Erzählen Sie mir, warum er in Deutschland war, Mrs. Fontaine.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie müssen doch eine Ahnung haben.«
    »Ich weiß es wirklich nicht.«
    »War es seine Gewohnheit, Ihnen nicht zu sagen, wohin er fuhr?«
    »Nein.«
    »Warum hielt er sich dann in Deutschland auf? Es muss einen Grund dafür gegeben haben. Andere Geschäfte vielleicht? Andere …«
    Sie hob rasch den Kopf. »Andere Frauen? Das wollten Sie doch fragen, nicht wahr?«
    Nick antwortete nicht.
    »Nicht wahr?«
    »Es ist eine nicht unbegründete Vermutung.«
    »Nicht bei Geoffrey!«
    »Bei jedem.« Er sah ihr fest in die Augen.
    Sarah hielt seinem Blick stand.
    »Sie waren insgesamt zwei Monate verheiratet«, stellte er fest. »Wie gut kannten Sie Ihren Gatten?«
    »Kannte? Ich liebte ihn, Mr. O’Hara.«
    »Ich spreche nicht von Liebe, was immer das auch sein mag. Ich frage Sie, wie gut Sie Ihren Mann kannten, wer er war und was er machte. Wie lange ist es her, seit Sie sich kennenlernten?«
    »Das war … ich glaube, vor sechs Monaten. Ich habe ihn in einem Café in der Nähe meines Arbeitsplatzes getroffen.«
    »Und wo arbeiten Sie?«
    »Beim NIH. Ich bin Mikrobiologie-Forscherin.«
    Nicks Augen hatten plötzlich einen wachsamen Blick. »Welche Art von Forschungen?«
    »Bakterielle Genome … Wir spalten Gene … Warum stellen Sie alle diese Fragen?«
    »Unterliegen diese Forschungen der Geheimhaltung?«
    »Ich verstehe immer noch nicht, warum …«
    »Sind diese Forschungen geheim, Mrs. Fontaine?«
    Der scharfe Ton seiner Frage schockierte sie, und sie sah ihn sprachlos an. Dann antwortete sie leise: »Ja. Einige schon.«
    Er nickte und zog ein anderes Blatt aus den Unterlagen. Ruhig fuhr er fort: »Ich bat Mr. Corrigan in Berlin, den Pass Ihres Mannes zu überprüfen. Wo man auch hinfliegt, bekommt man bei jedem neuen Grenzübertritt einen Einreisestempel. Der Pass Ihres Gatten wies verschiedene Stempel auf. London, Schiphol/Amsterdam und schließlich Berlin. Alle waren von letzter Woche. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum er diese Städte aufgesucht hat?«
    Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Wann hat er Sie zum letzten Male angerufen?«
    »Vor einer Woche, aus London.«
    »Können Sie sicher sein, dass er in London war?«
    »Nein. Es war natürlich ein Anruf ohne Vermittlung durch ein Fernamt.«
    »Hatte Ihr Mann eine Lebensversicherung abgeschlossen?«
    »Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Er hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt.«
    »Zieht jemand Nutzen aus seinem Tod? In finanzieller Hinsicht, meine ich?«
    »Ich glaube nicht.«
    Nick hörte ihr mit gerunzelter Stirn zu, rutschte etwas auf der Schreibtischplatte zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und starrte einen Augenblick lang zur Seite. Sarah konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken die Fakten überschlug und die Einzelheiten sortierte. Sie war ebenso durcheinander wie er. Das ergab alles keinen Sinn. Geoffrey war ihr Mann gewesen, doch nun fing sie an, sich zu fragen, ob Nick O’Hara nicht Recht hatte, dass sie Geoffrey nie richtig gekannt hatte. Alles, was
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher