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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
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Geoffrey und sie geteilt hatten, waren Bett und Tisch, aber nie ihre Herzen.
    Nein, das stimmte auch nicht, es war Verrat an der Erinnerung an ihn. Sie glaubte an Geoffrey. Warum sollte sie diesem Fremden Glauben schenken? Warum erzählte dieser Mann ihr das alles? Stand hinter all dem eine ganz andere Absicht? Plötzlich missfiel ihr Nick O’Hara, ja sehr sogar. Er bombardierte sie mit all diesen Fragen aus einem ihr unbekannten Grund.
    »Wenn Sie fertig sind …«, sagte Sarah verärgert und wollte erneut aufstehen.
    Nick sah sie verwundert an, als hätte er ihre Gegenwart vergessen. »Nein. Noch nicht.«
    »Es geht mir nicht besonders gut, und ich würde gern nach Hause fahren.«
    »Haben Sie ein Bild Ihres Mannes?«, wollte Nick unvermittelt wissen.
    Verwirrt durch diese Frage, öffnete Sarah ihre Handtasche und zog eine Fotografie aus ihrer Brieftasche. Geoffrey war darauf sehr gut getroffen; das Bild war während ihrer dreitägigen Hochzeitsreise am Strand von Florida aufgenommen worden. Mit leuchtenden blauen Augen schaute er direkt in die Kamera. Sein Haar war blond wie Gold, das schräg fallende Licht warf Schatten über sein ungewöhnlich gut aussehendes Gesicht. Er lächelte. Von Anfang an hatte sie sich zu diesem Gesicht hingezogen gefühlt – nicht nur des guten Aussehens wegen, sondern durch die Stärke und Intelligenz, die aus seinen Augen sprach.
    Nick O’Hara nahm das Bild und betrachtete es schweigend. Sarah beobachtete ihn und dachte: Er ist so ganz anders als Geoffrey. Sein Haar ist nicht goldblond, sondern dunkelbraun, er lächelt auch nicht, sondern wirkt eher trocken, sachlich. Eine Aura der Besorgnis schien Nick O’Hara zu umgeben, ja des Unglücklichseins. Sie fragte sich, was er wohl beim Betrachten des Bildes denken mochte. Er zeigte keine Regung, und außer den Anzeichen von Müdigkeit konnte Sarah seinem Gesicht wenig entnehmen. Er hatte hellgraue undurchdringliche Augen.
    Nick reichte das Foto kurz Mr. Greenstein hinüber und gab es ihr dann schweigend zurück.
    Sarah steckte es ein, machte ihre Tasche wieder zu und blickte ihn an. »Warum stellen Sie mir denn all diese Fragen?«
    »Weil ich muss. Es tut mir auch leid für Sie, aber das ist wirklich notwendig.«
    »Für wen?«, fragte sie ärgerlich. »Für Sie?«
    »Und für Sie auch. Vielleicht sogar für Geoffrey.«
    »Das ergibt keinen Sinn.«
    »Es wird aber, wenn Sie den Berliner Polizeibericht kennen.«
    »Gibt es noch etwas anderes?«
    »Ja. Es betrifft die Todesumstände Ihres Gatten.«
    »Aber Sie sagten doch, es sei ein Unfall gewesen.«
    »Ich sagte, es sah wie ein Unfall aus.« Während Nick sprach, beobachtete er sie aufmerksam, als fürchte er, eine ihrer Gemütsbewegungen zu übersehen, vielleicht ein Flackern in ihren Augen. »Als ich vor wenigen Stunden mit Mr. Corrigan sprach, war eine neue Entwicklung eingetreten. Während einer Routineuntersuchung des Brandes wurden die Reste des Zimmers überprüft. Als man die Überbleibsel der Matratzen kontrollierte, stieß man auf eine Kugel.«
    Sarah starrte Nick ungläubig an. »Eine Kugel?«, fragte sie. »Wollen Sie damit behaupten …«
    Er nickte. »Man hat den Verdacht auf Mord.«

2. KAPITEL
    Sarah wollte etwas sagen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Sie saß wie eine Statue auf ihrem Stuhl, unfähig, sich zu bewegen, außerstande, etwas anderes zu tun, als ihr Gegenüber fassungslos anzusehen.
    »Ich dachte, Sie sollten es wissen«, sagte Nick. »Ich hätte es Ihnen in jedem Fall berichten müssen, weil wir jetzt Ihre Hilfe benötigen. Die Berliner Polizei erbittet Auskünfte über die Tätigkeit Ihres Mannes, seine Feinde … warum man ihn umgebracht haben könnte.«
    Sarah schüttelte benommen den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern … Ich meine, ich weiß einfach nicht … Oh, mein Gott!«, flüsterte sie.
    Die sachte Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter ließ Sarah zusammenzucken. Sie sah hoch und bemerkte Besorgnis in seinen Augen. Er befürchtet, ich könnte in Ohnmacht fallen, dachte sie. Er hat Angst, mir könnte schlecht werden und ich würde uns beide damit in Verlegenheit bringen.
    Plötzlich verärgert schüttelte sie seine Hand ab. Sie brauchte von niemandem einstudiertes Mitleid. Sie musste jetzt allein sein – fort von diesen Bürokraten und deren unpersönlichen Aktenordnern. Unsicher stand sie auf. Nein, sie würde nicht in Ohnmacht fallen, nicht vor diesem Mann.
    Nick ergriff ihren Arm und zwang sie sanft auf den Stuhl zurück.
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