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Die Dornen der Rose (German Edition)

Die Dornen der Rose (German Edition)

Titel: Die Dornen der Rose (German Edition)
Autoren: Joanna Bourne
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    »Du hast nichts Törichtes getan«, erklärte sie, »sondern einfach nur Pech gehabt. Das Ergebnis ist allerdings dasselbe.«
    Das Kaninchen erwiderte nichts. Es lag auf der Seite und keuchte. Das Entsetzen, das es erfüllte, entströmte seinem bebenden Leib wie Kaskaden einem Brunnen.
    Ihre Schlinge lag um seinen Hals. Sie hatte es mit einem Band aus roter Seide gefangen, das sie aus von einem Kleid abgerissenen Stoffstreifen geflochten hatte. Es konnte nicht fliehen. Es wand sich noch nicht einmal, als es den Tod durchs Gebüsch auf sich zukommen hörte. Verständig, wie es war, hatte es aufgegeben.
    »Die Parallelen zu meiner eigenen Situation sind eindeutig. Sie gefallen mir nicht.« Marguerite de Fleurignac setzte sich hin und zog den Rock über den Knien glatt. Sie spürte das glatte, scharfkantige Gras an ihren nackten Knöcheln. Hinter ihr erhoben sich die Überreste des Châteaus. Sie mied den Blick in diese Richtung, so gut das möglich war. »Du musst wissen, dass ich am Verhungern bin. Nicht wie in irgendwelchen Geschichten … voller Haltung und mit Anmut. Ich verliere fast den Verstand vor Hunger. Ich kratze Haferkörner aus Futtertrögen und sammle Beeren. Ich grabe Wurzeln aus und nage in meiner Höhle unter der Brücke an ihnen. All das liegt mir schwer im Magen. Ich will dir die unappetitlichen Details ersparen.«
    Der starre Blick des Kaninchens ging an ihr vorbei.
    »Das Leben ist nicht so, wie es einem in Märchen vorgegaukelt wird. Keine verzauberten Vögel, die auf Dächern landen und Botschaften überbringen. Du bietest mir im Tausch gegen dein Leben nicht die Erfüllung dreier Wünsche an. Kein Prinz kommt auf seinem weißen Ross herbeigeeilt, um mich zu retten.«
    Das Fell des Kaninchens war braun und setzte sich aus vielerlei Schattierungen zusammen. Das Deckhaar war dunkler als das flaumige Unterfell. In den Ohren war es fast schon samtig, in einem hellen Cremeton, und sie konnte die rosige Haut hindurchschimmern sehen. Die Augen des Kaninchens waren von kurzen, dickeren Haaren umrahmt. Es hatte Wimpern. Sie hatte nicht gewusst, dass Kaninchen Wimpern besaßen.
    Abgrundtiefes Entsetzen schlug ihr entgegen.
    Es war ein Fehler gewesen, das Kaninchen so genau zu betrachten. Sie hätte nicht mit ihm reden dürfen.
    Als sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, hatte der alte Mathieu, der Jagdaufseher, sie immer bei seinen Streifzügen durch diese Wälder mitgenommen. Er hatte Schlingen ausgelegt, eine Menge Kaninchen gefangen und sie in einem großen Lederbeutel verstaut, um sie nach Hause zu tragen.
    Er war schon seit fünfzehn Jahren tot. In den letzten Wochen seiner Krankheit hatte sie ihn täglich in seiner dreckigen, kleinen Hütte am Fluss besucht und ihn mit dem besten Brandy aus den Kellergewölben des Châteaus versorgt, um seinen Schmerz zu lindern.
    Onkel Arnault, der damalige Marquis, hatte geschimpft und Befehle erteilt, die sie alle ignoriert hatte. »Du verwöhnst die Bauern. Du machst Schoßhündchen aus ihnen.« Papa hatte auf die schädliche Wirkung von Alkohol auf die menschlichen Körpersäfte hingewiesen. Sie sollte dem Mann lieber Seewasser und Rübenmus bringen, hatte er gesagt. Cousin Victor war ihr nachgeschlichen, hatte sie hingeschubst, den Korb ausgekippt und alles kaputt gemacht, was sich darin befunden hatte.
    Onkel Arnault war schon lange tot – sein letztes politisches Streitgespräch hatte er mit der Guillotine geführt. Papa war jetzt der neue Marquis, sofern der Titel überhaupt noch eine Bedeutung hatte. Victor hatte sich der radikalsten revolutionären Gruppierung angeschlossen: den Jakobinern. Die Fässer mit dem Brandy waren blau auflodernd in die Luft gegangen, als das Feuer sich seinen Weg bis hinunter in den Weinkeller gesucht hatte. Es hatte niemanden weiter interessiert, dass sie einem sterbenden Mann Brandy gebracht hatte.
    Die Söhne des alten Mathieu hatten zu dem rasenden Pöbel gehört, der gekommen war, um das Château niederzubrennen. Sie hatte sie im Fackelschein bei den anderen auf dem Rasen stehen sehen.
    Unter dem Fell, an der Kehle des Kaninchens, war ganz schwach der Puls zu erkennen. Dieses Flattern in der Halsgrube, nicht größer als ein Sou, war das einzige Lebenszeichen.
    »Ich denke mir Geschichten aus und verhalte mich darin immer außerordentlich heldenhaft. Aber als die Männer gekommen sind, um mir den Garaus zu machen, hab ich mich wie ein Kaninchen aus dem Staub gemacht, wenn du mir den Vergleich erlaubst.« Sie
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