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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
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den er gerade betreten wollte. »Ich werde Sie heiraten«, hatte er gesagt.
    Die Äußerung war, wie sie mit der Zeit merken sollte, typisch für Calder Burwell, einen Mann mit einer so sonnigen Veranlagung, dass Claire ihm den Spitznamen California verpasste, obwohl sie, die dort aufgewachsen war, nur allzu gut wusste, wie launisch das Wetter in Wirklichkeit war: Kälteperioden und Dürren hatten dafür gesorgt, dass ihr Großvater, ein Zitruspflanzer, jahrelang knapp am Rand des Bankrotts entlangschlitterte, bevor ihr Vater ihn dann endgültig nicht mehr aufhalten konnte. Sie hatte unzählige quälende Fragen zu Cals Tod – wo, wie, wie viel Schmerzen hatte er leiden müssen –, auf die es keine Antwort gab. Das Schlimmste aber war die Angst, dass er in seinen letzten Augenblicken seinen unerschütterlichen Optimismus verloren haben könnte. Sie wollte, dass er in der Überzeugung gestorben war, dass er am Leben bleiben würde. Der Garten war eine Allegorie. Wie Cal beharrte er darauf, dass Veränderungen nicht nur möglich, sondern eine Gewissheit waren.
    »Es ist schon elf«, sagte Paul. »Irgendjemand sollte ihre oder seine Entscheidung noch einmal überdenken. Wie können wir erwarten, dass dieses Land in einem heilenden Prozess zusammenfindet, wenn diese Jury es nicht kann?«
    Schuldbewusste Gesichter. Anhaltendes Schweigen. Und schließlich, aus dem Mund des Historikers, ein fast spekulatives »Also …« Alle übermüdeten Augen richteten sich auf ihn, aber er sprach nicht weiter, als sei ihm gerade bewusst geworden, dass das Schicksal eines sechs Hektar großen Teils von Manhattan in seiner Hand lag.
    »Ian?«, drängte Paul.
    Selbst im leicht angesäuselten Zustand ließ sich Ian die Chance, einen Vortrag zu halten, nicht entgehen. Er dozierte, dass öffentliche Gärten im achtzehnten Jahrhundert aus den vorstädtischen Friedhöfen Europas hervorgegangen waren, leitete über zu den auf Gärten beruhenden Reformen Daniel Moritz Schrebers in Deutschland (»Wir interessieren uns hier nur für seine sozialen Reformmaßnahmen, nicht für die ›Maßnahmen‹, die er an seinen armen Söhnen durchführte«), machte einen Sprung zu dem Gefühl des Grauens, das in Edwin Lutyens’ Mahnmal für die Vermissten der Schlacht an der Somme in Thiepval zum Ausdruck kam, in dessen Innenwände zweiundsiebzigtausend Namen – »Zweiundsiebzigtausend!«, rief Ian – eingemeißelt waren, sinnierte über den Unterschied zwischen »nationaler Gedenkstätte« und »Veteranengedenkstätte« in Verdun und kam etwa fünfzehn Minuten später zu dem Schluss: »Aus diesem Grund – der Garten.«
    Damit hatten sich neun der dreizehn Juroren für den Garten ausgesprochen. Pauls Stimme würde also tatsächlich die zehnte und entscheidende sein, was ihm keineswegs missfiel. Er hatte sich selbst nicht nur öffentliche, sondern auch interne Neutralität auferlegt und nicht zugelassen, dass einer der Entwürfe ihn besonders ansprach. Aber im Lauf des Abends hatte er angefangen, eher dem Garten den Vorzug zu geben. »Freude finden« – diese Bemerkung Claires hatte etwas in ihm ausgelöst. Freude: Wie fühlte sie sich an? Beim Versuch, sich daran zu erinnern, wurde er von Wehmut überwältigt. Er kannte Befriedigung, die Hochgefühle des Erfolgs, Zufriedenheit, Glück, soweit er es identifizieren konnte. Aber Freude? Er musste Freude empfunden haben, als seine Söhne geboren wurden – ein solches Ereignis war doch gewiss Anlass für Freude –, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Freude: sie war wie ein Griff ohne den dazugehörigen Schrank, ein Geheimnis, in das er nicht eingeweiht war. Ob Claire es kannte?
    »Der Garten«, sagte er, und Jubel brach aus, weniger aus Überzeugung, denn aus Erleichterung.
    »Danke, Paul. Danke Ihnen allen«, flüsterte Claire.
    Paul ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken und gestattete sich einen Anflug von sentimentalem Patriotismus. Der aussichtslosere der beiden Finalisten hatte tatsächlich gewonnen – Paul jedenfalls hätte nicht gedacht, dass es Claire gelingen würde, sich gegen Ariana durchzusetzen. Dass sie es geschafft hatte, empfand er als sehr amerikanisch. Champagner wurde gebracht, Korken knallten, euphorisches Stimmengewirr füllte den Raum. Paul klopfte an sein Glas, um alle zu einem Augenblick des Schweigens für die Opfer aufzufordern. Als die Köpfe sich senkten, fiel sein Blick auf Claires Scheitel, so schnurgerade und weiß wie der Kondensstreifen eines
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