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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
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stimmte. Das Licht des Kronleuchters ließ die Fenster aus Zuckerguss aufblitzen.
    Paul war gerade damit fertig, seinen Teller mit allem Möglichen, mit Ausnahme des Lebkuchens, zu beladen, als Ariana sich wie ein winziger Speer vor ihm aufbaute. Gemeinsam zogen sie sich in eine Ecke hinter dem Flügel zurück, wo sie ungestört waren.
    »Ich mache mir Sorgen, Paul«, sagte Ariana. »Ich möchte nicht, dass sich unsere Entscheidung auf zu viel Gefühl « – das Wort war fast nur ein Flüstern – »gründet.«
    »Es geht hier um eine Gedenkstätte, Ariana. Ich glaube nicht, dass wir Gefühle völlig aus dem Spiel lassen können.«
    »Sie wissen, was ich meine. Ich mache mir Sorgen, dass Claires Gefühle einen unverhältnismäßig großen Einfluss haben.«
    »Ariana, genauso gut könnte man sagen, dass Sie einen unverhältnismäßig großen Einfluss haben. Ihre Meinung zählt unglaublich viel.«
    »Nicht im Vergleich zu der einer Angehörigen. Trauer kann zum Totschlagargument werden.«
    »Ästhetik auch.«
    »Zu Recht. Aber wir reden hier über etwas viel Bedeutsameres als Ästhetik. Wir reden über Urteilsvermögen. Ein Familienmitglied unter uns zu haben ist, als würden wir den Patienten, nicht den Arzt, über die bestmögliche Behandlungsmethode entscheiden lassen. Ein wenig mehr klinische Distanz wäre heilsamer.«
    Aus dem Augenwinkel sah Paul, dass Claire sich mit dem bedeutendsten New Yorker Kritiker für Kunst im öffentlichen Raum unterhielt. Mit ihren hohen Absätzen war sie fünfzehn Zentimeter größer als er, versuchte aber nicht, sich kleiner zu machen. Sie trug an diesem Abend ein eng anliegendes schwarzes Etuikleid – Paul vermutete, dass die Farbwahl kein Zufall war. Claire war eine Frau, die genau wusste, wie man sich für jeden Anlass am vorteilhaftesten kleidete. Paul respektierte das, aber Respekt war vielleicht der falsche Ausdruck dafür, welche Rolle Claire in seiner Vorstellung spielte. Nicht zum ersten Mal bedauerte er sein Alter (fünfundzwanzig Jahre älter als sie), seine schütter werdenden Haare und seine eheliche Treue – an die er sich eher aus Prinzip denn aus Überzeugung hielt. Gebannt beobachtete er, wie Claire sich nun von dem Kritiker abwandte, um einem anderen Jurymitglied nach draußen zu folgen.
    »Sie ist wirklich beeindruckend«, hörte er. Anscheinend hatte er Claire allzu auffällig beäugt. Abrupt wandte er sich wieder Ariana zu, die fortfuhr: »Aber der Garten ist zu gefällig. Er soll dieselben Leute ansprechen, für die der Impressionismus das Höchste ist.«
    »Zufällig habe ich auch viel für den Impressionismus übrig«, sagte Paul, der sich nicht sicher war, ob er so tun sollte, als sei das als Witz gemeint. »Ich kann Claire keinen Maulkorb anlegen, und Sie wissen selbst, dass die Familien unsere Wahl eher akzeptieren werden, wenn sie das Gefühl haben, in das Verfahren eingebunden zu sein. Wir brauchen den emotionalen Input, den Claire mitbringt.«
    »Paul, Sie wissen, da draußen lauert eine geballte Kritikerschaft. Wenn wir uns für die falsche Gedenkstätte entscheiden, wenn wir uns Sentimentalitäten beugen, bestätigt das nur –«
    »Ich kenne die Bedenken«, sagte er schroff. Dass es für eine Gedenkstätte noch zu früh sei, dass das Gelände noch kaum freigeräumt sei, dass das Land den Krieg noch nicht gewonnen oder verloren habe, sich nicht einmal so richtig einig sei, gegen wen oder was es eigentlich kämpfte. Aber dieser Tage spielte sich alles schneller ab – das Auftauchen und Verschwinden von Idolen, die Ausbreitung von Krankheiten, Gerüchten, Trends, die Verbreitung von Nachrichten, die Entwicklung neuer Finanzinstrumente, was, nebenbei bemerkt, dazu beigetragen hatte, Pauls eigenes Ausscheiden aus dem Vorstand seiner Investmentbank zu beschleunigen. Wieso also sollte nicht auch die Gedenkstätte schneller gebaut werden? Sicher, dabei spielten auch kommerzielle Erwägungen eine Rolle; der Eigner des Geländes wollte, dass es wieder Geld einbrachte, und brauchte dafür die Gedenkstätte, da die Amerikaner anscheinend nicht bereit waren, in der Maximierung von Büroflächen die schlagkräftigste Antwort an die Adresse der Terroristen zu sehen. Aber es gab auch patriotische Erwägungen. Je länger das Gelände ungenutzt blieb, desto mehr wurde es zum Symbol der Niederlage, der Kapitulation, etwas, worüber »sie«, wer immer »sie« sein mochten, sich lustig machen konnten. Eine Erinnerung daran, dass Amerika einen Teil seiner Größe
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