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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
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eingebüßt hatte, und an seine neue Anfälligkeit für Angriffe fanatischer Banden, die in jeder Hinsicht, außer wenn es um Mord ging, nur Mittelmaß waren. Paul hätte es natürlich nie so simpel ausgedrückt, aber das brachliegende Gelände war eine Peinlichkeit. Diese Leere zu füllen – und auf Ediths ehrgeizige Pläne hinzuarbeiten –, war der Grund dafür, dass er den Vorsitz der Jury angestrebt hatte. Die Arbeit dieser Jury würde nicht nur in der von ihm so geliebten Stadt ein Zeichen setzen, sondern auch in die Geschichte eingehen.
    Ariana wartete darauf, dass Paul weitersprach. »Sie vergeuden mit mir nur Ihre Zeit«, sagte er brüsk. Der Sieger brauchte zehn von dreizehn Stimmen; Paul hatte von Anfang an klipp und klar gesagt, dass er seine Neutralität nur dann aufgeben würde, wenn es um eine einzige fehlende Stimme für den Finalisten ging. »An Ihrer Stelle würde ich lieber versuchen, Maria aus Claires Fängen zu retten.«
    Claire hatte gesehen, wie Maria, eine Zigarette in der Hand, nach draußen ging, und sich beeilt, ihr zu folgen. Vorher hatte sie flehentlich – es gab kein anderes Wort dafür – auf den Kritiker eingeredet. »Nur weil wir der Toten gedenken, müssen wir doch keinen Ort schaffen, der tot ist«, hatte sie gesagt und dabei beobachtet, wie er die Schultern bewegte, als habe er Nackenschmerzen davon, dass er zu ihr hochschauen musste. Gleichzeitig hatte sie ihr Gedächtnis nach Informationsfetzen zur Funktionsweise von Jurys durchforstet. Was hatte Asch mit seinen Konformitätsexperimenten noch mal aufgezeigt? Wie leicht sich Menschen durch die Wahrnehmungen anderer Menschen beeinflussen lassen. Anpassung. Gruppenzwang. Normative Einflüsse. Wie der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung Denken und Handeln von Menschen beeinflusst. Was bedeutete, dass Claires Chancen sich verbesserten, wenn sie sich die Juroren einzeln vornahm. Maria, Kuratorin für Kunst im öffentlichen Raum, hatte sich damit einen Namen gemacht, dass sie großformatige Werke, darunter auch eins von Ariana, überall in Manhattan aufstellen ließ. Das machte es zwar eher unwahrscheinlich, dass sie die Seiten wechseln würde, aber Claire musste es zumindest versuchen.
    »Kann ich auch eine haben?«, fragte sie.
    Maria gab ihr eine Zigarette. »Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen.«
    »Nur gelegentlich«, log Claire. Gelegentlich gleich nie.
    Sie standen auf der Veranda. Vor ihnen lag der Rasen, die majestätischen Bäume nur vage Schatten in der Dunkelheit, die Lichter der Brücken und Häuser zum Greifen nahe Sternenformationen. Maria schnippte ihre Asche wie selbstverständlich über die Brüstung auf den Rasen, und obwohl Claire das als respektlos empfand, tat sie es ihr nach.
    »Ein zerstörter Garten innerhalb der Mauern – damit könnte ich mich anfreunden«, sagte Maria.
    »Wie bitte?«
    »Ein zerstörter Garten wäre so aussagekräftig und würde alle Bedenken widerlegen, bittere Erinnerungen sollten einfach ausradiert werden. Wir müssen geschichtlich denken, die lange Sicht im Auge behalten. Es geht um ein Symbol, das die Menschen noch in hundert Jahren ansprechen soll. Große Kunst überdauert ihre Zeit.«
    »Ein zerstörter Garten enthält keine Hoffnung, und das ist absolut inakzeptabel«, sagte Claire ungewollt scharf. »Sie alle reden ständig von der langen Sicht, aber die lange Sicht schließt auch uns mit ein. Meine Kinder, meine Enkel, Menschen mit einer direkten Verbindung zu den Anschlägen, werden auch noch in hundert Jahren da sein. Vielleicht ist das im Vergleich zur Venus von Willendorf nur eine kurze Zeitspanne, aber im Augenblick kommt sie uns sehr lang vor. Ich verstehe also nicht, wieso unsere Interessen weniger zählen sollten. Wissen Sie, neulich nachts habe ich von dem schwarzen Teich rund um das Nichts geträumt. Die Hand meines Mannes reckte sich aus dem Wasser und versuchte, mich hineinzuziehen. Das ist die Wirkung, die das Nichts hat. Sie können also gern hingehen und sich dazu beglückwünschen, was für eine großartige künstlerische Aussage mit dem Nichts verbunden ist, aber ich glaube nicht, dass die Angehörigen für einen Besuch Schlange stehen werden.«
    Ihre Empörung war echt, auch wenn ihr schon vor Monaten klar geworden war, welche Wirkung sie damit erzielen konnte. An einem Winternachmittag, als sie und andere Hinterbliebene nach einem Treffen mit dem Direktor der Entschädigungsstelle das Gebäude verließen, hatte ein Reporter in der wartenden
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