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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
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Flugzeugs, ein Anblick, der so unerwartet intim war wie das Aufblitzen eines Oberschenkels. Dann fiel ihm wieder ein, dass er eigentlich der Toten gedenken wollte.
    Er hatte schon lange nicht mehr an jenen schicksalhaften Tag zurückgedacht. Auf dem Weg in die Stadt hatte er in einem Stau festgesteckt, als seine Sekretärin anrief und etwas von einem Unglück oder einem Anschlag sagte, der Auswirkungen auf die Märkte haben könnte. Damals fuhr er noch jeden Tag ins Büro, da ihm noch nicht klar geworden war, dass »emeritiert« in einer Investmentbank nichts anderes bedeutete als »überflüssig«. Als der Verkehr vollständig zum Erliegen kam, stieg Paul aus dem Auto. Auch andere standen auf der Straße und blickten nach Süden, einige schirmten ihre Augen mit den Händen ab, alle tauschten Informationen aus, ohne etwas Konkretes zu wissen. Dann rief Edith an und schluchzte: »Sie stürzen ein, sie stürzen ein!« Im nächsten Augenblick brach das Mobilnetz zusammen. »Hallo? Hallo, Liebling?«, tönte es überall um ihn herum. Es folgte eine Stille von pompejischer Dichte, so bedrückend, dass Paul dankbar war, als Sami, sein Fahrer, sie mit den Worten brach: »Oh Sir, ich hoffe nur, es hat nichts mit den Arabern zu tun.« Natürlich hatte es das, wie sich herausstellen sollte.
    »Oh Sir, ich hoffe nur, es hat nichts mit den Arabern zu tun.« Sami war kein Araber, aber er war Muslim. (Achtzig Prozent aller Muslime waren keine Araber. Das gehörte zu den zahlreichen Fakten, die viele Amerikaner erst nach den Anschlägen erfuhren und geflissentlich nachplapperten, ohne genau zu wissen, was sie damit sagen wollten. Oder vielmehr, sie wussten, dass sie sagen wollten, dass nicht alle Muslime so problematisch waren wie die arabischen, allerdings ohne es so direkt sagen zu müssen.) Paul hatte gewusst, dass sein Fahrer Muslim war, sich aber nie Gedanken darüber gemacht. Jetzt fühlte er sich trotz aller Bemühungen unbehaglich, und als der bekümmerte Sami – war er je anders als bekümmert? – drei Monate später nach Pakistan zurückkehren musste, weil sein Vater im Sterben lag, war Paul erleichtert, obwohl er das nur höchst ungern zugab. Er versprach Sami eine ausgezeichnete Empfehlung, falls er zurückkäme, fand eine höfliche Ausrede dafür, den Job nicht seinem Cousin zu geben, und heuerte stattdessen einen Russen an.
    Das Trauma hatte Paul erst später eingeholt, als er die Ereignisse im Fernsehen sah und sich schwor, sie nie zu vergessen. Man war kein Amerikaner, wenn man nicht solidarisch mitangesehen hatte, wie die eigenen Landsleute pulverisiert wurden, doch was für eine Art Amerikaner wurde durch dieses Mitansehen geschaffen? Ein traumatisiertes Opfer? Ein aufgebrachter Rächer? Ein Voyeur wider Willen? Paul und vermutlich auch viele andere Amerikaner waren all das in einem. Die Gedenkstätte sollte ihnen helfen, das alles zu verarbeiten.
    Und jetzt war es keine x-beliebige Gedenkstätte mehr, sondern der Garten . Paul leitete seine kleine Ansprache mit der Aufforderung an die Juroren ein, »loszuziehen und ihn auf Teufel komm raus zu verkaufen«, überdachte seine Wortwahl und legte ihnen stattdessen ans Herz, sich für den Garten »starkzumachen«. Das leise Geklapper der tippenden Protokollantin füllte die Pausen in seiner Ansprache, und das Bewusstsein des historischen Augenblicks spornte ihn zu ungeahnten rhetorischen Höhenflügen an. Er lenkte alle Blicke auf einen vergoldeten runden Spiegel, über dem ein Adler seine Fußfesseln abwarf.
    »Wie zur Zeit der Gründung Amerikas gibt es auch jetzt Gegner der Werte, für die wir stehen, Gegner, die sich durch unsere Freiheitsliebe bedroht fühlen.« Nur der Vertreter der Gouverneurin nickte bei diesen Worten zustimmend. »Aber wir haben uns nicht beugen lassen und werden es auch in Zukunft nicht tun. ›Tyrannei kann nur im Dunkeln existieren‹, sagte James Madison, und Sie alle, die Sie so schwer gearbeitet haben, um das Andenken der Toten zu bewahren, haben dazu beigetragen, dass die Lichter am Firmament auch weiterhin leuchten. Sie sind einer heiligen Verpflichtung mit Anstand und Würde nachgekommen, und Ihr Land wird davon profitieren.«
    Zeit, dem Gewinner ein Gesicht zu geben, einen Namen. Ein weiteres ungewohntes Gefühl für Paul: eifrige, fast kindliche Neugier – Begeisterung sogar – über jene Seltenheit, eine echte Überraschung. Am besten wäre es, wenn der Gewinner ein absolut Unbekannter oder aber ein berühmter Künstler
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