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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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sogar der beste Fährtenleser von allen.
    Diesmal würde die Jagd ein Kinderspiel sein, prahlte er, denn der Flüchtling war ein junges Mädchen, das sicher lauter Spuren hinterließ.
    Und der älteste Sohn des Gutsbesitzers irrte sich nicht.
    Ein weißer Kleiderfetzen, der an einem Dornbusch hing, war das Zeichen, das er brauchte. Er wollte niemandem davon erzählen, sondern die geflohene Sklavin alleine aufspüren und am Genick zurückschleppen. Sein Vater würde ihm stolz auf den Rücken klopfen. Und seine Verlobte würde voller Bewunderung sein.
    Der Pfad, den Atima Silencio gewählt hatte, führte sie in eine Bergschlucht. Vielleicht waren es die Trommeln, die ihr den Weg nach oben wiesen.
    Tam.
    Tam, ta m …
    Atima Silencio begann zu klettern und suchte dabei an Felsvorsprüngen Halt. Sie hoffte, dass sie auf der anderen Seite des Berges vor ihren Jägern sicher sein würde. Der Hang war steil und die Schlucht tief. Aber, wie bei ihrem Aufbruch, blickte sie nicht zurück.
    Atima Silencio spürte die Anstrengung in ihren schlanken Beinen und ihren spitzen Knien, doch sie kämpfte sich immer höher hinauf. Sie näherte sich dem Gipfel.
    „Los, Atima! Da sind Wege und Trommeln, die dich führen werden. Los! Jetzt ist der richtige Augenblick. Flieh, Atima, lauf weg, so weit du kannst!“
    Als die Sklavin den Gipfel erreichte, erstarrte sie. Die andere Seite war eine senkrechte Felswand. Ein Abstieg war unmöglich. Sie war keine Eidechse und auch kein Vogel, der wegfliegen konnte. Sie war eine flüchtige Sklavin. Und als sie kehrtmachen wollte, sah sie den Tod mit einem breitkrempigen Strohhut, der sie von unten beobachtete.
    Der Sohn des Gutsbesitzers hatte sie entdeckt und lächelte. Er hatte alle Zeit der Welt und konnte die anderen Männer zu Hilfe rufen. Doch warum sollte er das tun? Dann müsste er das Lob, das allein ihm gebührte, mit ihnen teilen.
    Er war wohlgenährt, hatte kräftige Arme und Beine und seine Lederstiefel waren trittfester als Schnürsandalen. Er sah die Angst der Sklavin, die zwischen ihm und dem Abgrund gefangen war, als er ihr zielstrebig nachkletterte.
    Aber der starke Regen hatte die Erde aufgeweicht. Und der älteste Sohn des Gutsbesitzers setzte den Fuß auf die falsche Stelle. Der Felsbrocken war locker, löste sich und riss einen anderen mit sich, der einen weiteren ins Rollen brachte. Der Sohn des Gutsbesitzers verlor den Boden unter den Füßen und versuchte, sich an einem Felsvorsprung festzuklammern. Doch die Hände konnten sein Gewicht nicht halten. Sein Körper überschlug sich mehrmals, als er den Hang hinabstürzte.
    Der Tod hatte seinen Strohhut und sein Lächeln verloren. Nun lag er reglos da, mit dem Gesicht nach oben und ausdruckslosen Augen.
    Als Atima Silencio ihn aus der Höhe betrachtete, riss der Himmel auf und die Sonne zeigte sich. Der älteste Sohn des Gutsbesitzers schien tot zu sein.
    Vielleicht hatten die Trommeln sich doch nicht getäuscht.
    In kurzer Zeit lösten sich die Wolken auf und die Sonne trat mit Kraft hervor. Die Tiere wurden munter, doch die Menschen erstickten fast in den feuchten Schwaden, die aus der Erde aufstiegen.
    Die Verfolger von Atima Silencio verloren allmählich die Geduld. Sie wischten sich den Schweiß ab, spuckten auf den Boden und verfluchten die Sklavin, die sie zwang, ihre Mittagspause aufzuschieben. Das würde sie bereuen! Das sollte sie büße n …
    Einer von drei Nachzüglern blieb stehen, um einen Schluck Wasser zu trinken. Es war nur noch ein kleiner Rest in seinem Trinkschlauch, sodass er ihn über seinem offenen Mund schütteln musste. Wie er so mit dem Gesicht gen Himmel dastand, erregte ein Licht seine Aufmerksamkeit.
    „Schaut mal da!“
    Die beiden anderen Männer folgten seinem ausgestreckten Zeigefinger mit den Augen. Zunächst sahen sie nicht, was ihr Kamerad ihnen zeigen wollte, doch einen Augenblick später tanzte ein Licht zwischen den Bäumen hin und her. Es bestand kein Zweifel: Da gab jemand Lichtzeichen.
    Der Mann, der das Signal entdeckt hatte, schoss in die Luft. So wollte er dem Hilfesuchenden ankündigen, dass sie schon unterwegs waren.
    Die drei Männer stellten wilde Spekulationen an, während sie sich der Lichtquelle näherten. Irgendwer schien in Not zu sein. Vielleicht hatte einer der fahrenden Händler, die von Zeit zu Zeit mit einem Karren voller Waren vorbeikamen, einen Unfall erlitten. Es könnte auch ein Maultiertreiber sein, der von einer Giftschlange gebissen worden war. Oder vielleicht
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