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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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misslichen Lage war sie klug genug, ihren kleinen Spiegel so sicher zu verstecken, dass niemand ihn ihr wegnehmen konnte. Sie trug ihn immer bei sich.
    Jahre später erhielt Atima Imaoma von ihrem neuen Herrn die Erlaubnis, einen Sklaven vom selben Landgut zu heiraten. Und im Jahr 1802 brachte sie ein Mädchen zur Welt. Sie scherte sich nicht darum, wie die Gutsherren die Neugeborene nennen wollten, sondern flüsterte ihrem Töchterchen den Namen ins Ohr, den sie mit ihrem Mann für es ausgewählt hatte.
    Der Name verband die beiden Abschnitte ihres Leben s – Afrika und Amerik a –, die zwei Ufer des Meeres.
    „Wir nennen dich Atima Silencio“, sagte sie.
    Der Pestkarren, der aus Menschenknochen gemacht war, kam nach Mendoza und nahm eine große Ladung Leichen mit.
    Manchmal wurden erkrankte Sklaven bereits auf den Wagen geworfen, bevor sie tot waren.
    Der Pestkarren nahm den Vater von Atima Silencio mit, und kurz darauf verschied auch ihre Mutter, Atima Imaoma.
    Das Leben von Atima Imaoma erlosch mit dem Tageslicht. Im Sterben hatte sie von einem Schiff gesprochen, das im Hafen auf sie wartete, um sie in ihre Heimat, das Land mit der roten Erde, zurückzubringen.
    Von da an dachte Atima Silencio nur noch an Flucht.

KAPITEL 3
    Ein Landgut in der Provinz Mendoza
Oktober 1816
    Atima Silencio erzählte niemandem von ihrem Vorhaben, weder dem Napf, aus dem sie aß, noch ihrem eigenen Schatten, denn sie wusste, dass Fluchtgerüchte Beine hatten und schnell zum Haus der Gutsherren liefen.
    Ein paar alte Sklaven hatten ihr gesagt, dass es nicht schwer sei, aus dem großen, kaum bewachten Landgut auszubrechen. Trotzdem sei eine Flucht schwierig, wenn nicht gar unmöglich, weil man draußen schnell wieder gefasst würde. Die Freiheit geflohener Sklaven währte nicht lange.
    Und welches Schicksal erwartete einen Sklaven, dem die Flucht tatsächlich gelang? Wo sollte er Zuflucht suchen? Wo er auch hinging, er würde zu seinem Herrn zurückgebracht werden, damit der ihn hart bestrafte, erklärten die alten Sklaven.
    Nachts starrte Atima Silencio oft zum Strohdach der großen Baracke, in der sie zusammen mit den anderen Frauen schlief. Sie wollte nicht wie fast alle Sklavinnen an diesem Ort krank werden und schließlich auf ihrem einfachen Lager sterben, ohne den Trost der Trommeln, denn die hatten die Gutsherren verboten.
    Tam.
    Tam, ta m …
    Seit ihr tiefer, satter Rhythmus nicht mehr über das Landgut hallte, hatten die Sklaven ihre einzige Freude verloren.
    Auch in jener Nacht blickte Atima Silencio zum Strohdach hinauf. Draußen tobte ein heftiges Unwetter. Der Sturm fegte durch die Landschaft und wirbelte alles davon: Blätter, Staub und Sterne.
    Ein Brett, das lose vom Dach herabhing, schlug gegen eine Wand der Baracke.
    Tam.
    Tam, ta m …
    Die Schläge verwandelten sich in eine Botschaft: „Los, Atima Silencio, steh auf und lauf hinaus! Da sind Wege und Trommeln, die dich führen werden. Los! Jetzt ist der richtige Augenblick. Flieh, Atima, lauf weg, so weit du kannst!“
    Atima Silencio zog den Spiegel, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, unter ihrem Kopfkissen aus Heu hervor und trat hinaus. Sie entfernte sich ohne Eile von der Baracke, als wäre es Tag und als wollte sie die Hühner- und Schweineställe ausmisten. Sie blickte nicht zurück und dachte nicht voraus. Sie ging immer weiter, ohne ihr Ziel zu kennen.
    Rufe zerrissen die frühmorgendliche Stille.
    „Alarm! Ein Fluchtversuch!“
    Eine Gruppe von Männern mit Gewehren nahm die Verfolgung auf. Da es immer noch regnete, kamen sie schlecht voran. Der Morgen war so finster wie ihre Absichten. Dunkel war auch die Haut der flüchtigen Sklavin, die vor Erschöpfung keuchte.
    „Alarm! Ein Fluchtversuch!“
    Die Männer trennten sich, um das ganze Gelände zu durchforsten. Atima Silencio war in dem nächtlichen Unwetter mit ihren Sandalen aus Schnüren und Leder nicht allzu weit gekommen. Sie war mehrmals hingefallen. Aber sie war immer wieder aufgestanden und weitergelaufen.
    „Jetzt haben wir dich!“
    Atima Silencio drehte sich nach ihren Verfolgern um. Aber es war nur ein Weißdornstrauch, der ihr Kleid festhielt. Sie atmete auf und blickte zum Himmel empor. Dann rannte sie weiter.
    „Alarm! Ein Fluchtversuch!“
    Der älteste Sohn des Gutsbesitzers begleitete die Männer. Es machte ihm Spaß, Sklaven zu jagen, so wie es ihm gefiel, Vögel abzuschießen. Er hatte ein gutes Auge für Spuren, die den Weg eines Flüchtlings verrieten. Vielleicht war er
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