Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
Vom Netzwerk:
erstarrte. War das ein Maure? Sicher nicht, denn die Mauren waren dunkelhäutig. Hatte der Mann womöglich irgendein Fieber und würde ihn im Vorbeigehen anstecken? Und wenn es sich um einen Zigeuner handelte?
    Bei diesen beängstigenden Gedanken musste Dorel sich an die nächste Hauswand lehnen. Reglos stand er da, mit dem Kopf zwischen den Armen, und wartete darauf, dass das Unvermeidliche passierte.
    Die Schritte wurde immer lauter. Der Mann war schon fast da. War er ein Zigeuner oder vom Gelbfieber befallen? Und was war mit den Strahlen?
    „Was hast du, Junge? Kann ich dir helfen?“
    Die Stimme des Mannes klang freundlich. Und als Dorel zwischen seinen Armen hervorspähte, sah er ein gütiges Lächeln ohne lange Eckzähne.
    „Soll ich dich nach Hause begleiten?“, fuhr der Mann im dunklen Anzug fort.
    Dorel schüttelte den Kopf.
    „Suchst du jemanden?“
    Dorel nickte.
    „Und wen suchst du?“
    „Eine n … eine n … einen Junge n … ungefähr so gro ß … der eine Münze braucht.“
    „Hat er rote Haare?“
    „Ja, Señor.“
    „Ich glaube, den habe ich auf dem Hauptplatz gesehen. Wenn du rennst, kannst du ihn noch erwischen.“
    Der Mann schien darauf zu warten, dass Dorel loslief.
    Teils deswegen und teils wegen der Sonne hastete Dorel davon, obwohl er nicht einmal wusste, wo der Hauptplatz war. Er lief ohne Rhythmus und ohne Kraft, aber er lief.
    „He, Junge!“, rief der Mann ihm nach. „Viel Glück!“
    Und Dorel hatte Glück, denn schon im nächsten Augenblick tauchte der Platz vor ihm auf.
    Auf dem großen Platz wuchsen Sträucher mit farbenprächtigen Blüten. Dorel blieb mit offenem Mund vor ihnen stehen und war versucht, sich zu bücken und an ihnen zu riechen. Aber Vorsicht! Dort könnten sich Nester der giftigen Fliegen verbergen.
    Plötzlich schlug Dorels Herz wieder schneller. Er war mitten auf dem Hauptplatz und konnte es nicht fassen, dass er es gewagt hatte, sich so weit von dem Geschäft zu entfernen. Er sollte lieber umkehren. Schließlich war der Junge, der ihm den Spiegel verkauft hatte, nirgendwo zu sehen.
    Als Dorel sich an den Spiegel erinnerte, legte er die Hand auf den Brustbeutel, in dem er steckte.
    „He!“, rief eine Stimme hinter ihm.
    Dorel drehte sich erschrocken um. Eine alte Frau mit einem schwarzen Kopftuch streckte ihm die Hand hin und bat ihn, ihr über eine Pfütze zu helfen. Er sollte einer Fremden die Hand geben? Maria Petra hätte ihm den sicheren Tod durch Ansteckung prophezeit. Aber die alte Frau war ungeduldig.
    „Na los, ich habe nicht alle Zeit der Welt! Oder hat man dich nicht gelehrt, Respekt vor dem Alter zu haben?“
    Zögernd reichte Dorel ihr die Hand. Sie ergriff sie mit erstaunlicher Kraft und schritt fast mühelos über die Pfütze.
    „Du solltest lieber etwas Nützliches tun, statt auf diesem Platz herumzulungern“, schimpfte sie.
    Dorel fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet. „Ich suche jemanden.“
    „Was du nicht sagst. Und wen suchst du?“
    „Einen rothaarigen Jungen, der um eine Münze bettelt.“
    „Du hast Glück. Den habe ich gerade gesehen. Der Ärmste ist auf der Brücke und bittet um Geld für eine Medizin. Aber niemand hat ihm etwas gegeben. Ich konnte es auch nicht, weil ich zu arm bin. Wenn du eine Münze für ihn hast, dann renn ihm nach.“
    „Aber ich kann nicht“, begann Dorel.
    Die alte Frau hatte weder Zeit noch Lust zu debattieren.
    „Komm mir nicht mit Ausreden! Natürlich kannst du ihm nachrennen, denn du hast zwei Beine. Lauf sofort zur Brücke. Widersprich keiner Dame, die deine Großmutter sein könnte. Los, lauf!“
    Teils wegen des strengen Tons der alten Frau und teils wegen der Sonne rannte Dorel los, obwohl er nicht einmal wusste, wo die Brücke war.
    Aber kurz darauf tauchte sie vor ihm auf. Das schlichte Bauwerk führte über einen schmalen Fluss mit wenig Wasser.
    Dort schien die Welt ein wogendes Menschenmeer zu sein.
    Dorel sah und hörte das Treiben, wie man in Albträumen sieht und hört, als wäre es fern und nah zugleich. Die Formen und Farben überwältigten ihn, dann entfernten sie sich, als würden sie vom Wind davongeweht werden. Geräusche der Stadt dröhnten ihm in den Ohren und verstummten wieder ohne ein Echo. Er drehte den Kopf hin und her. Hier war der rothaarige Junge auch nicht.
    Inzwischen hatte Dorel das Zeitgefühl verloren. Er rechnete sich nicht mehr aus, wie viele Minuten ihm noch blieben, um vor Maria Petra im Laden zu sein. Doch sicher war es höchste Zeit, sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher