Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
Vom Netzwerk:
Miene schien den Dichter zu rühren.
    „Ich hoffe, du hattest wenigstens einen wichtigen Grund, mich zu stören.“
    Dorel war froh, dem Mann einen guten Grund nennen zu können.
    „Ja, Señor. Ich suche einen rothaarigen Jungen. E r …“
    „Im Kloster“, unterbrach ihn der Dichter. „Dort ist er und klopft an die Tür. Geh jetzt, damit meine Verse zu mir zurückfinden.“
    „Aber Sie sagten doch gerade, dass Verse nie zurückkommen.“
    „Verschwinde!“
    Teils, weil der Dichter ihn anschrie, und teils wegen der Sonne lief Dorel ohne ein weiteres Wort los.
    Das Kloster hatte dicke Steinmauern und war von großen Bäumen umgeben.
    Nicht alle verschlossenen Türen sind gleich. Manche gebieten Respekt, sodass man mit ausgestreckter Hand vor ihnen verharrt und nicht zu klopfen wagt. Vor solchen Türen fragt man sich mehrmals, ob der Grund, der einen herführte, es rechtfertigt, die Leute drinnen bei ihren Aufgaben zu stören.
    Genauso ging es Dorel, als plötzlich jemand aus einem Baum zu ihm sprach.
    „Was suchst du, mein Sohn?“
    Wie gut klang dieses Wort aus dem Mund des schlanken und bärtigen Mönchs, der nun erstaunlich flink vom Baum herabstieg.
    „Ich bin gern im Schatten“, erklärte er. Dann wiederholte er seine Frage: „Was suchst du?“
    Da nahm Dorel den Spiegel aus dem Brustbeutel und zeigte ihn dem Mönch.
    „Ein rothaariger Junge hat mir diesen Spiegel verkauft. Ich schulde ihm noch eine Münze.“
    „Handelt es sich um einen Jungen, der eine Medizin braucht?“
    „Ja, genau!“
    „Du kannst beruhigt sein. Der Junge war hier. Wir gaben ihm, worum er bat. Und etwas mehr. Übrigens war er dem Menschen, der ihm den Spiegel abgekauft hat, sehr dankbar. Wie es aussieht, warst du das.“
    „Ja.“ Dorel wollte diesen schattigen und angenehm kühlen Ort nicht mehr verlassen.
    Der Mönch blieb vor ihm stehen und sah ihn aufmerksam an. Dann hob er die Hände aus den Ärmeln seiner braunen Kutte und strich ihm über den Kopf.
    „Du siehst durstig aus“, sagte er.
    „Das bin ich auch. Ich habe einen weiten Weg hinter mir.“
    Der Mönch lächelte. „Vielleicht. Was weit und was nah ist, hängt vom Wanderer ab.“
    Kurz darauf trank Dorel in einem Saal des Klosters eine große Tasse frische Milch. Mit einer Hand hielt er die Tasse und mit der anderen den Spiegel, den er dem Mönch eben gezeigt hatte.
    „Du hattest tatsächlich großen Durst, Dorel“, sagte der bärtige Mann, der inzwischen den Namen seines Gastes kannte.
    „Ja, das stimmt.“
    Mit einem Mal schien dem Mönch ein Gedanke zu kommen.
    „Da du, wie du sagtest, einen weiten Weg hast, werde ich dir eine Mahlzeit aus Keksen und Obst zubereiten. Du kannst dich inzwischen nach Belieben umschauen.“
    Dorel schlenderte durch den Saal. Es gab dort nicht viel zu sehen, außer ein paar riesigen Möbeln aus dickem Holz mit ein paar Büchern darauf. Ein Silbertablett, ein Kruzifix, Schreibpapier und ein Tintenfas s …
    Plötzlich weiteten sich Dorels Augen, denn er hatte etwas Wundervolles erblickt. Es lag auf einem niedrigen Wandsims. Es schien ihn zu kennen und auf ihn zu warten.
    Dorel legte den Spiegel aus der Hand, nahm den kostbaren Gegenstand behutsam, aber ohne Angst, vom Sims und hob ihn an seine linke Schulter.
    Ein Violinakkord erklang im Kloster. Und jeder, der ihn hörte, begriff, dass die Hand, die den Geigenbogen führte, außergewöhnliche Fähigkeiten besaß.
    Der Mönch lauschte andächtig hinter der Tür und nickte.
    Der Spiegel auf dem Wandsims zeigte das strahlende Gesicht von Dorel. Der Junge lächelte und mit ihm der Spiegel.
    Der kleine Spiegel mit dem Ebenholzrahmen.

Gegen Ende des …

    Gegen Ende des Jahres 1816 versammelte sich in Südamerika eine Armee, um Vorbereitungen für die Überquerung der Anden zu treffen.
    Atima Silencio lief durch eine Stadt im Aufruhr, die weder Zeit noch Ohren für eine kleine freigelassene Sklavin hatte. Sie bat um Arbeit, aber sie erhielt keine. Niemand wollte eine Sklavin beschäftigen, die bereits die Freiheit gekostet hatte. Das war ein zu großes Risiko. Außerdem war sie ein schlechtes Beispiel für die eigenen Sklaven.
    Atima Silencio wanderte pausenlos umher und erhielt nur ab und zu ein Almosen, von dem sie sich ernähren konnte. Sie irrte so viel herum, dass der Tag und die Nacht für sie schließlich ein und dasselbe waren.
    Hunger schärft die Wahrnehmung, auch den Geruchssinn. Atima Silencio roch gebratenes Fleisch. Und sie folgte dem Duf t …

KAPITEL
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher