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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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meiner Mutter, und von meiner Mutter weiß ich, dass ihre Mutte r …“
    „Immer mit der Ruhe. Vor lauter Müttern verstehe ich gar nicht, was du mir sagen möchtest.“ Dann wechselte der Mann das Thema, als würde die Geschichte des Mädchens ihn nicht interessieren. „Und wofür können wir deiner Meinung nach einen Spiegel gebrauchen?“
    Atima Silencio antwortete prompt: „Um Lichtzeichen zu geben, Señor. Das habe ich gemacht und damit dem Sohn meines Herrn das Leben gerettet. Deshalb hat er mir die Freiheit geschenkt.“
    „Soso.“
    Aber wieder hörte der Mann kaum zu, was das Mädchen erzählte. Er wirkte zerstreut, während er den Spiegel in seiner Hand betrachtete.
    „Weißt du, was ein Erkennungszeichen ist?“, fragte er plötzlich.
    Atima Silencio schüttelte den Kopf.
    „In einem Krieg muss ein Kurier etwas dabeihaben, woran ihn seine Leute erkennen. Einen Beweis dafür, dass es sich um einen Freund handelt. Verstehst du?“
    „Ja, ich verstehe, Señor.“
    „Pass auf, was wir machen, um diesem Spiegel einen guten Zweck zu geben.“
    General José de San Martín nahm ein Stilett, drehte den Spiegel auf die Rückseite und ritzte sein Namenszeichen an den unteren Rand. Nun war das Ebenholz für immer markiert.
    „Fertig“, sagte er. „Jetzt hat er ein Erkennungszeichen und einen Nutzen in diesem Krieg.“
    Atima Silencio freute sich.
    „Danke, Señor.“
    „Ich verspreche dir, dass ich ihn einem meiner besten Kuriere mitgeben werde.“
    Wenige Tage später wurde das Lager aufgelöst. Die Soldaten brachen auf und die Frauen gingen ihre eigenen Wege, wie sie es gesagt hatten.
    Damit waren für Atima Silencio die glücklichen Tage vorbei, die sie an diesem Ort hatte verleben dürfen.

KAPITEL 6
    Talca, Chile
18. März 1818
    Über Talca brach die Dämmerung herein. Vor der Stadt lagerte die Armee von General San Martín. Sie wollte dort übernachten. Die Soldaten mussten etwas essen und sich ausruhen, denn am nächsten Tag sollten sie dem Feind gegenübertreten.
    Vor einer Poststation der chilenischen Stadt hielt ein Reisender sein Pferd an.
    Es war nicht mehr weit bis zu seinem Ziel, aber sein erschöpftes Pferd brauchte Wasser und eine Pause. Er dachte, dass die Poststation ein guter Rastplatz war, und stieg ab.
    Der Gastraum war fast leer. Nur eine kleine Gruppe königstreuer Soldaten saß um einen Tisch herum. Der Mann senkte den Kopf und versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Als wäre er nur ein Bauer, der hier war, um etwas zu essen.
    Wortkarg bestellte er sich eine warme Mahlzeit. Er ließ den Hut auf und sah sich nicht nach den Königstreuen um, die an ihrem Tisch flüsterten und lachten.
    Er wirkte gleichgültig, doch er hatte die geschulten Sinne eines Kuriers: gute Augen und Ohren und eine feine Nase. Er erkannte, dass zwei der Männer Unteroffiziere waren. Die anderen drei waren einfache Soldaten. Er lehnte sich leicht nach hinten und schnappte Gesprächsfetzen auf.
    „Unser General Ordóñez ist wahrlich ein großer Feldher r …“
    „ … wenn sie weit verstreut sind oder schlafe n …“
    „Jede Wette, dass wir morgen feiern.“
    Allmählich verstand der Kurier, worum es ging. Die Königstreuen planten einen Überraschungsangriff auf die Armee von General San Martín, die in der Ebene von Cancha Rayada die Nacht verbrachte.
    Er hob die Hand an die Brust und tastete nach dem Spiegel, der ihn als Kurier auswies. Er musste sich beeilen, um noch rechtzeitig hinzukommen.
    Er rief nach dem Wirt, bezahlte sein Essen, das er nicht einmal gekostet hatte, und stand auf. Doch bevor er den Raum verlassen konnte, trat einer der Unteroffiziere auf ihn zu.
    „He, du! Bist du so reich oder so dumm, dass du dir ein Essen bestellst und es dann nicht anrührst?“
    „Ich bin weder reich noch dumm. Das Essen ist schlecht“, erwiderte der Kurier, der das Gespräch schnell beenden wollte.
    „Wenn wir hier essen, kannst du das auch.“
    Falls der Kurier eine Bestätigung brauchte, dass er die Äußerungen der Königstreuen richtig gedeutet hatte, musste er nur nachschauen, was sie sich bestellt hatten. Auf ihrem Tisch standen ein paar große Tassen klare Suppe und ein Krug Wasser. Das bedeutete, dass sie in dieser Nacht nüchtern sein mussten.
    „Vielleicht stört ihn unsere Anwesenheit“, warf der andere Unteroffizier ein.
    „Nein, keineswegs“, entgegnete der Kurier.
    Wer bald in eine Schlacht ziehen wird, steht unter Hochspannung. Er weiß, dass er dort dem Tod ins Auge
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