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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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auf den Heimweg zu mache n …
    „Guten Tag!“
    Ein Mädchen, das ungefähr in seinem Alter war, grüßte ihn. Und es lächelte ihn an. Am Arm trug es einen Henkelkorb, der mit einem weißen Tuch abgedeckt war.
    „Ich verkaufe Anisbrötchen. Möchtest du eins?“
    Dorel musste an die Ölgemälde im Antiquitätengeschäft denken, die er immer wieder gerne betrachtete. Das Mädchen mit dem langen, gewellten Haar sah aus, als wäre es so einem Bild entsprungen.
    „Wenn du eine Münze hast, dann kauf dir eins“, ermunterte es ihn. „Die Brötchen sind frisch gebacken. Sie werden dir schmecken.“
    „Ich habe eine Münze, aber die kann ich nicht ausgeben“, erwiderte Dorel.
    „Warum nicht?“ Das Mädchen lächelte immer noch.
    „Weil ich sie einem rothaarigen Jungen geben muss. Er braucht sie, u m …“
    „ … eine Medizin zu kaufen!“, rief die Anisbrötchenverkäuferin.
    „Woher weißt du das?“
    „Ich weiß es, weil ich ihn gerade am Hafen getroffen habe. Er hat fast geweint, der Arme. Ich habe ihm ein Brötchen gegeben, damit er wenigstens keinen Hunger leidet. Es freut mich sehr, dass du ihm die fehlende Münze geben willst!“
    Dorel lächelte auch, zum ersten Mal an diesem Tag. Zum ersten Mal seit langer Zeit.
    „Lauf!“, feuerte das Mädchen ihn an. „Und wenn du Lust hast, komm morgen wieder. Dann können wir weiterplaudern. Ich bin immer hier und verkaufe Brötchen.“
    Teils wegen der Sonne, aber vor allem wegen des strahlenden Lächelns der Straßenverkäuferin lief Dorel los.
    Er spürte, dass das Mädchen ihm nachschaute, deshalb wollte er keine Unsicherheit zeigen.
    Der Wind, der ihm entgegenblies und nach feuchtem Holz und Fisch roch, musste vom Hafen herkommen. Aber würde er es schaffen, den Hafen zu erreichen, dem rothaarigen Jungen die fehlende Münze zu geben und rechtzeitig wieder im Laden von Maria Petra zu sein?
    „Mauren, Zigeuner, Gelbfieber, gefährliche Strahlen, wilde Hund e …“ Vielleicht lag es an der wachsenden Entfernung zum Antiquitätengeschäft, dass die Stimme von Maria Petra schwächer wurde.
    Schließlich erreichte er sein Ziel. Der Hafen war eine Welt für sich. Chaotisch und schmutzig, kunterbunt und wundervoll.
    Eine Welt voller Menschen und Geschrei, in der es schier unmöglich war, den rothaarigen Jungen auszumachen. Ein Schiff fuhr ab. Dorels Augen füllten sich mit Tränen. Er hob die rechte Hand und winkte. Die Schiffssirene ertönte. Und der arme Dorel, der die Welt kaum kannte, glaubte, das Schiff würde ihm antworten.
    Er beschloss, endlich umzukehren. Bisher hatte er sehr viel Glück gehabt, aber es war besser, es nicht über Gebühr zu strapazieren.
    „Das Glück ist wie eine Prise Pfeffer. Du willst an ihm riechen, aber sobald du ihm zu nahe kommst, musst du niesen und er fliegt davon“, sagte Maria Petra immer.
    Ein großer Kieshaufen brachte Dorel auf eine Idee. Inzwischen fühlte er sich sicherer auf den Beinen. Er würde da hinaufsteigen und von oben nach dem rothaarigen Jungen Ausschau halten. Wenn er ihn sah, würde er ihn herbeirufen, um ihm die vierte Münze zu geben. Wenn nicht, würde er sofort heimlaufen.
    Er kletterte auf den Kieshaufen und blickte sich um. Vergeblich. Es war allerhöchste Zeit umzukehren.
    Während er hinabstieg, erinnerte er sich an den kleinen Spiegel. Wenn er Maria Petra diesen guten Kauf zeigte, würde seine Strafe etwas milder ausfallen. Statt drei Monaten doppelter Arbeit und halber Essensportionen würden es vielleicht nur zwei Monate und fünfundzwanzig Tage sein. Dorel tastete den Brustbeutel ab. Der Spiegel war noch heil.
    Er merkte, dass er Durst hatte, und machte sich auf den Rückweg.
    „Wo gehst du hin, Junge? Wie kannst du mit deinen lauten Schuhen vorbeilaufen, ohne zu bemerken, dass hier ein Dichter nach Versen sucht?“
    „Entschuldigen Sie“, sagte Dorel, der dank seines Lehrers einiges über Dichter wusste.
    „Es ist leicht, um Entschuldigung zu bitten. Aber die unvergleichlichen Verse, die in meinem Kopf langsam Form annahmen, sind nun weg.“
    „Vielleicht kommen sie wieder“, wagte Dorel zu antworten.
    Da wurde der Dichter so zornig, dass er von dem Felsen aufsprang, auf dem er gesessen hatte, und seine Notizen in den Wind warf.
    „Niemals!“, schrie er. „Verse kommen nie zurück! Sie sind wie Flüsse. Hast du je einen Fluss gesehen, der zurückkommt?“
    Dorel dachte, dass es sehr viele Dinge gab, die nie mehr wiederkehrten. Doch das sagte er natürlich nicht laut. Etwas an seiner
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