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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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    Vereinigte Provinzen von Südamerika, ein Militärlager in Mendoza
November 1816
    Sie verbarg sich in der Dunkelheit, die das Lagerfeuer umgab. Ihr Herz sagte etwas anderes als ihr Magen.
    In der Nähe spielte ein Mann Gitarre. Dazu sang er ein Lied über einen Mann, der ein Lied sang. Andere Männer liefen geschäftig umher. Atima Silencio konnte aber nicht erkennen, was sie genau machten.
    Dann und wann ertönte eine Stimme oder Gelächter.
    Auf einem Grill seitlich vom Lagerfeuer brutzelten übergare Reste von Fleisch und Speck. Atima Silencio musste sich zwischen ihrem Hunger und ihrer Angst entscheiden. Natürlich war der Hunger stärker.
    Als die Männer sie sahen, schenkten sie ihr zunächst keine Beachtung. In der Finsternis hielten sie sie für eine der Frauen, die täglich bei den Vorbereitungen für den Feldzug halfen. Die kannten sie alle. Die meisten waren Witwen. Energisch, schamlos und so derb wie Matrosen von einem Frachtschiff.
    Aber bald bemerkte einer der Männer, dass Atima Silencio nicht dazugehörte, und machte seine Kameraden mit einer lauten Bemerkung darauf aufmerksam.
    Alle drehten die Köpfe, um die Fremde anzugaffen. Einige meinten, sie sei noch ein Kind, andere widersprachen ihnen.
    Atima Silencio sah nur den Grill mit den brutzelnden Fleischresten.
    „Komm näher!“
    Sie machte ein paar Schritte auf das Feuer zu.
    „Wenn du etwas davon essen willst, musst du herkommen.“
    „Hab keine Angs t …“
    „Na los, komm schon.“
    Jemand spießte die Fleischstücke auf ein kleines scharfes Messer.
    „Hier, greif zu!“
    Gierig verschlang sie das Fleisch. Wenn ihre Mutter da gewesen wäre, hätte sie Atima Silencio für ihre schlechten Manieren getadelt. Aber ihre Mutter konnte sie nicht mehr tadel n – und auch nicht mehr beschützen.
    Einer der jüngeren Männer ging auf sie zu.
    „Wie heißt du? Woher kommst du? Du bist bestimmt eine geflohene Sklavin. Hast du Angst?“ Er trat noch ein Stück an sie heran. „Du bist hübsch, weißt du das?“ Das Gelächter seiner Kameraden ermutigte ihn. „Was hast du da um den Hals hängen? Zeig es mir.“
    Er wollte nach dem Spiegel greifen, doch dann hielt er plötzlich inne.
    Zwei Reiter näherten sich.
    Offenbar erkannten die Männer sie, denn sie erhoben sich sofort, zogen ihre Kleidung zurecht und setzten eine pflichtbewusste Miene auf.
    Die Neuankömmlinge hatten Öllaternen dabei, mit denen sie die Gruppe Gesicht für Gesicht anleuchteten.
    „Wer ist dieses Mädchen?“ Der Reiter, der diese Frage stellte, hatte die Befehlsgewalt über alle Männer des Lagers und über viele andere.
    War die Mutter von Atima Silencio wirklich nicht da, um über sie zu wachen?
    Mit wenigen stockenden Worten klärten die Männer den Reiter auf.
    „Bringt die Kleine zu den Frauen. Die wissen besser als ihr, wie man ein verängstigtes und ausgehungertes Mädchen behandelt. Meint ihr nicht auch, Soldaten?“
    „Jawohl, Señor!“
    So begannen für Atima Silencio die wenigen glücklichen Tage, die ihr an diesem Ort vergönnt sein würden.
    Sie hatte genug zu essen und sogar Gesellschaft. Die Frauen übertrugen ihr verschiedene Aufgaben und unterhielten sich mit ihr. Aber sie sagten ihr mehrfach, dass die Armee schon bald aufbrechen würde. Dann würden sie wieder ihre eigenen Wege gehen.
    Atima Silencio kannte inzwischen den Namen und den Rang des Reiters, der ihr geholfen hatte. Sie sah ihn noch zweimal, aber nur aus der Ferne.
    Es gab jedoch noch eine weitere Möglichkeit, die sie schließlich nutzte.
    „Guten Tag, Señor.“
    Verärgert über die Störung blickte der Mann von seinen Papieren auf. Er erkannte das Mädchen nicht wieder, das er ein paar Tage zuvor am Feuer gesehen hatte.
    „Was suchst du hier?“
    „Ich weiß, dass Sie viele Dinge für Ihre Armee brauchen. Und ich hab e …“
    „Es ist nicht meine Aufgabe, Spenden entgegenzunehmen. Draußen wird man dir zeigen, wo du sie hinbringen kannst.“
    Ein trockener Husten unterbrach die mürrische Antwort.
    „Heben Sie die Arme, Señor“, sagte Atima Silencio. „Heben Sie die Arme und sagen Sie: Husten verschwinde in alle Winde!“
    Der Mann schenkte sich aus dem Krug, der neben ihm stand, ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck. Er musste lächeln.
    „Lass mal sehen, was du der Armee spenden willst.“
    Das Gesicht von Atima Silencio wurde rot wie glühende Kohlen.
    „Diesen Spiegel, Señor.“ Dann sprudelte sie hervor: „Er kommt aus Afrika. Die Mutter meiner Mutter gab ihn
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