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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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war es der Arzt, der den Gutsbesitzer oft besuchte, um seine Gliederschmerzen zu lindern.
    Sie stellten sich alles Mögliche vor, nur nicht das, was sie gleich zu sehen bekamen.
    Am oberen Rand der Schlucht stehend gab die geflohene Sklavin Lichtzeichen mit einem kleinen Spiegel, den sie in die Sonne hielt.
    Als die Männer zu Atima Silencio hinaufklettern wollten, zeigte sie ihnen den Körper, der unten in der Schlucht lag. Dann stieg sie selbst hinab, als wollte sie den Männern die Mühe ersparen, und ergab sich.
    Drei Tage später wurde Atima Silencio ins Herrenhaus gerufen.
    Der Gutsbesitzer erwartete sie. Er saß in seinem Arbeitssessel hinter einem großen Schreibtisch mit kunstvollen Schnitzereien und Ecken aus Bronze. Die drei Männer, die sie gefunden hatten, standen hinter ihr.
    Der Gutsbesitzer trank Tee, weil er Zeit hatte.
    „Du bist also die Kleine, die sich über mich lustig machen wollte“, begann er.
    Da der Gutsbesitzer viel Zeit hatte, trank er seinen Tee in sehr kleinen, geräuschvollen Schlucken.
    „Weißt du, dass dein Leben in meiner Hand liegt? Weißt du, dass ein Gutsherr keinen schlimmeren Fehler begehen kann, als einen Flüchtling ungestraft davonkommen zu lassen? Aber du hast meinem Sohn das Leben gerettet. Der Arzt sagt, er wird bald wieder der Alte sein. Und ich sage, er wird bald wieder der beste Jäger geflohener Sklaven sein.“
    Der Gutsbesitzer trank die Zeit, als wäre sie ein sehr heißer Tee.
    „Frauen sind schwach, sage ich immer. Die Verlobte meines Sohnes und meine Frau haben sich für dich eingesetzt. Sie liegen mir in den Ohren und wünschen, dass ich dir zum Dank die Freiheit schenke, die du so sehr begehrst. Und weißt du, was ich machen werde? Ich werde ihnen den Gefallen tun!“
    Atima Silencio taumelte vor ungläubiger Freude. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.
    „Natürlich tue ich ihnen den Gefalle n … Von diesem Moment an bist du frei. Ich werde dir sogar ein Schreiben mitgeben, damit niemand dich zurückschleppt. Aber hör gut zu, was ich dir jetzt sage: Du wirst bald reumütig umkehren! Wie stellst du dir die Freiheit vor, du Närrin? Geh nur! Du wirst zurückkommen und mich anflehen, dich wieder aufzunehmen.“
    Der Gutsbesitzer trank Tee. Er hatte Zeit.
    Atima Silencio ging rückwärts aus dem Zimmer.
    Noch am selben Nachmittag verließ sie mit ihrem Spiegel das Landgut und wanderte der Freiheit entgegen.

KAPITEL 4
    Spanien, Provinz Valencia
Oktober 1818
    Die Sonne beschien den ganzen Platz. Trotzdem war es nicht allzu heiß.
    Am Anfang schmerzte das ungewohnte Licht Dorel in den Augen. Er musste sie mit der Hand abschirmen und blinzeln, bevor er einzelne Formen erkennen konnte.
    Bis zur Ecke, sagte er sich. Aber die Ecke schien so weit weg wie der Horizont. Sie war eine unbekannte Welt, in der all die Gefahren lauerten, die Maria Petra ihm jahrelang ständig aufgezählt hatte: die Mauren, die giftigen Fliegen, die Zigeuner, das Gelbfieber, das Schwarzfieber, die gefährlichen Strahlen, die von einem wolkenlosen Himmel fielen, die Erdspalten, die sich urplötzlich unter den Füßen auftun konnten, große Rudel wilder Hunde, Vampire mit langen Eckzähnen, die auf ihre Opfer warteten, und noch viele andere Schrecken.
    Dorels Beine waren ganz steif vor Angst und sein Nacken war schweißnass. Trotzdem beschloss er, bis zur nächsten Ecke zu laufen. Das waren nur ein paar Schritte. Dann würde er sofort in das sichere Antiquitätengeschäft zurückkehren.
    Er konnte sowieso nicht lange draußen bleiben, denn Maria Petras monatlicher Besuch bei der Tante dauerte nie länger als eine Stunde. Was auch passieren mochte, er würde pünktlich zurück sein.
    Nur bis zur Ecke, ermunterte Dorel sich selbst.
    Wenn er den rothaarigen Jungen, der ihm den Spiegel verkauft hatte, irgendwo sah, würde er ihm die vierte Münze geben. Das wäre gut. Und wenn er ihn nicht fand? Das wäre Pech. Dann würde er die Sache vergessen.
    Zaghaft traute sich Dorel einen kleinen Schritt nach vorne. Nichts passierte.
    Er machte noch einen Schritt, dann einen dritten und wieder einen, dann den fünften und den sechsten und noch einen und noch einen, dann den neunten und den zehnten und noch einen.
    Nun war er schon mehr als zehn Schritte von der Tür des Antiquitätengeschäfts entfernt. Bis zur Ecke waren es schätzungsweise zehn weitere Schritte.
    Als er sie erreichte, erschien plötzlich ein Mann in einem dunklen Anzug auf der Straße. Er kam auf ihn zu. Dorel
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