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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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zurück. Das war die einzige Zeit, in der Dorel das Antiquitätengeschäft führte. Und in der er sich seinen Träumen hingeben konnte.
    Damals war es unter wohlhabenden Bürgern üblich, Waisenkinder bei sich aufzunehmen und großzuziehen. Sie mussten arbeiten und erhielten dafür Unterkunft und Verpflegung und so etwas Ähnliches wie ein Zuhause. Maria Petra redete sehr oft darüber.
    „Wenn ich daran denke, in was für einem Zustand du warst, als ich dich aus dem Waisenhaus holte, Dore l … Nur Haut und Knochen und völlig in dich gekehrt! Es ist nicht gut, zu viel nachzudenken. Das habe ich dir schon gesagt, nicht?“
    „Ja, Señora.“
    An jenem Tag hatte Maria Petra wieder einmal Lust, in Erinnerungen zu schwelgen.
    „Du warst sechs Jahre alt und so mager wie ein Thymianzweig. Ich brachte dich hierher und päppelte dich mit Kraftbrühe und Blumenkohlpüree auf. Ich zeigte dir, wie man Metallgegenstände blank poliert, wie man Federkissen wäscht und viele andere wichtige Dinge, die ein so unbeholfenes Kind wie du sonst niemals gelernt hätte! Heute bist du ein wohlerzogener Jüngling von siebzehn Jahren. Und du bist sehr glücklich. Ist es nicht so, Dorel?“
    „Ja, so ist es, Señora.“
    Maria Petra schob den Teller voller abgenagter Knochen beiseite. Selbstzufrieden, weil sie ein so guter Mensch war, verschränkte sie die fleischigen weißen Arme über dem Tisch.
    „Ich erlaube dir sogar, jeden Samstag diesen neunmalklugen Lehrer zu empfangen, der mit seinen dicken Büchern ankommt und dir erzählt, dass dieser oder jener Fluss hier oder dort entspringt und dass dieses oder jenes Tier diese oder jene Gewohnheiten hat. Ich sehe zwar keinen Nutzen darin, solche Dinge zu wissen. Aber dir gefällt der Unterricht, nicht wahr?“
    „Oh ja, sehr, Señora!“, erwiderte Dorel. Zum ersten Mal während des Gesprächs wirkte er ehrlich begeistert.
    Für Dorel war dieses Leben das einzig mögliche. Doch er hatte einen großen Traum, auf den Maria Petra auch sogleich zu sprechen kam.
    „Ich muss sagen, dass ich es mit dir gar nicht so schlecht getroffen habe. Es gibt Schlimmere als dich, so viel steht fest. Zöglinge, die ihre Gönner sogar bestehlen. Du bist nicht übel, das muss ich zugeben. Wäre da nur nich t …“ Maria Petra trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Wäre da nur nicht diese leidige Sache mit dem Geigespielen.“
    Dorel hörte zu und blickte auf seine Hände. Eines Tages war eine Geige im Antiquitätengeschäft gelandet. Damals strich Dorel den Bogen über die Saiten, erstaunlich geschickt für jemanden, der das noch nie getan hatte. Und er konnte den Klang nicht mehr vergessen.
    „Dorel, ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass die Musik auf einer Hexenhochzeit erfunden wurde.“ Maria Petra hatte den Ton angeschlagen, in dem sie ihre Schauergeschichten erzählte. „Es heißt, dass eine Hexe zur Hochzeit einer Cousine eingeladen wurde. Sie erschien und genoss das Festessen. Doch als die Geschenke überreicht wurden, fiel ihr ein, dass sie nichts für die Braut dabeihatte. Da kam sie auf die Idee, ihren hässlichen Mund mit den großen schiefen Zähnen zu öffnen und loszuträllern. So entstand die Musik, Dorel! Du hast gut daran getan, sie zu vergessen!“
    Dorels Adern vibrierten wie Saiten.
    „Du hast sie doch vergessen, oder?“
    „Ja, Señora.“
    Dorels Blut toste wie das Meer. Maria Petra neigte sich vor und blickte ihm ins Gesicht.
    „Sehe ich etwa Tränen in deinen Augen?“
    „Nein, Señora. Es gibt keinen Grund zu weinen.“
    Aber Dorels Herz wollte davonrennen.
    „Das finde ich auch. Du hast keinen Grund zu weinen und viele Gründe, dich glücklich zu schätzen. Ist es nicht so?“
    Dorel konnte nicht antworten.
    „Sag, Dorel, ist es nicht so?“
    Dorel wollte nicht antworten.
    Da fragte Maria Petra erneut: „Ist es nicht so, Dorel? Ist es nicht so?“
    Der bedrängte Dorel wurde plötzlich traurig, als würde es in ihm regnen. Nun wollte und konnte er antworten.
    „Nein, Señora. So ist es nicht.“
    Maria Petras Miene erstarrte vor Erstaunen und Entsetzen. Als Dorel erst einmal zu reden begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Er sprach sehr leise und sah dabei auf einen Fettfleck im Tischtuch.
    „Ich bin nicht glücklich, Señora Maria Petra. Und ich werde es nie sein, wenn Sie mich nicht Geige spielen lassen. Der Herr Lehrer sagt, dass Musik gut für die Seele ist. Und er sagt auch, dass es gar nicht sein kann, dass die Mauren hier herumstreifen, weil
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