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Der afrikanische Spiegel

Der afrikanische Spiegel

Titel: Der afrikanische Spiegel
Autoren: Liliana Bodoc
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hatte, legte Silencio sich auf die Füße ihrer kranken Freundin, um sie warm zu halten. Das war viel besser, als draußen in den kalten Baracken zu schlafen.
    Raquel und Silencio wuchsen zusammen auf.
    Raquel lernte Gesellschaftstänze und brachte sie später Silencio bei. Silencio musste bei einigen Hausarbeiten helfen. Dann langweilte sich Raquel. Und als Raquel Handarbeiten erlernen musste, die zu den Beschäftigungen eines wohlerzogenen Mädchens gehörten, bestand sie darauf, dass Silencio mitmachte. Andernfalls würde sie schlechter stricken und noch schlechter sticken.
    „Es wäre besser, wenn Silencio bei ihr bliebe“, sagte ihre Mutter.
    Und Señor Fontezo y Cabrera willigte schließlich ein.
    Raquel wuchs unbeschwert auf. Und Silencio war froh, dass sie in dieses Haus gekommen war.
    In der Küche hörte sie die schwarzen Köchinnen erzählen, wie Sklaven in anderen Häusern misshandelt und bestraft wurden. Ihre Herren peitschten sie aus, wenn sie sahen, dass sie das Gesicht verzogen, und legten sie in Ketten, wenn sie ungehorsam oder faul waren. Und wenn einer zu fliehen versuchte, ließen sie ihn verdursten.
    „Wir müssen dankbar sein, dass der gnädige Herr und die gnädige Frau so gut zu uns sind“, sagten die alten schwarzen Frauen.
    Und Silencio war dankbar.
    Aber etwas bereitete ihr Kummer: ihr Name. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht an den Namen erinnern, den sie in ihrer Heimat gehabt hatte. Wenn sie in sich hineinhorchte, hörte sie nur ein fernes Echo. Und eine Frauenstimme, die nach ihr rief, mischte sich mit den Lauten der Tiere eines fernen Waldes.
    Manchmal sah Raquel, wie Silencio sich in ihrem kleinen Spiegel betrachtete, mit Tränen in den schönen Augen.
    „Bist du traurig, Silencio? Denkst du an deinen Namen? Wenn du willst, können wir ihn gemeinsam suchen.“
    Dann zählte Raquel Namen auf: „Maria, Mercedes, Pilar, Ines, Antoni a …“
    „Nein, so hieß ich nicht“, sagte Silencio.
    „Aurora, Matilde, Jacint a …“
    „So auch nicht.“
    Der afrikanische Name war an einen Ort verschwunden, von dem Erinnerungen nicht zurückfinden.
    Zu ihrem zwölften Geburtstag wünschte sich Raquel ein ungewöhnliches Geschenk. Sie wollte Silencio das Schreiben und Rechnen beibringen.
    „Hast du denn nichts Besseres zu tun?“, fragte ihr Vater.
    „Das Sticken macht mir keinen Spaß. Ich möchte lieber Lehrerin sein.“
    „So, du möchtest also Lehrerin sei n … Wieso unterrichtest du nicht deine kleinen Vettern?“
    „Die kommen doch nur ab und zu.“
    Señor Fontezo y Cabrera zog tief an seiner Zigarre. Dann sprach er Worte voller Rauch.
    „Hör zu und merke dir, was ich dir jetzt sage: Schwarze haben keine Seele wie wir. Deshalb besitzen sie nicht unsere Fähigkeiten.“
    „Aber Silencio ist immer mit mir zusammen. Es ist, als wäre sie ein bisschen weiß.“
    An jenem Nachmittag beendete der strenge Blick ihres Vaters das Gespräch.
    Doch am nächsten Tag beharrte Raquel auf ihrem Wunsch. Und am übernächsten ebenfalls.
    Diesmal zögerte Señor Fontezo y Cabrera lange, dem Bitten und Drängen seiner Tochter nachzugeben. Er wusste, dass seine Freunde dies nicht gutheißen würden.
    „Stimmt es, dass in deinem Haus die Sklaven lesen und schreiben lernen?“, würden sie fragen.
    „Das geht zu weit!“, würden sie hinter seinem Rücken tuscheln.
    Andererseits würde er seiner kleinen Raquel womöglich bald einige der Annehmlichkeiten, mit denen sie aufgewachsen war, verwehren und sogar entziehen müssen, wenn sich die Lage nicht besserte. Und er wusste, dass Luxus so selbstverständlich erscheint wie die Luft zum Atmen, wenn man ihn von klein auf gewohnt ist.
    Am Ende gewann dieser Gedanke die Oberhand.
    „Aber ich stelle eine strikte Bedingung!“, sagte Señor Fontezo y Cabrera, bevor er sich geschlagen gab. „Das muss ein Geheimnis bleiben! Du wirst Silencio in der Scheune unterrichten und keinem aus deinem Freundeskreis davon erzählen. Auch deinen Vettern nicht.“
    Raquel und Silencio suchten sich eine Holzplatte, die groß und glatt genug war, und stellten sie an eine Scheunenwand. Darauf würden sie mit Gipsstücken die Buchstaben und Zahlen schreiben. Vor die Platte legten sie ein paar Strohballen zum Sitzen. Schon hatten sie ihre Schule.
    Señor Fontezo y Cabrera beruhigte sich damit, dass dieses Spiel seine Tochter sicher bald langweilen würde.
    Aber da irrte er sich gewaltig!
    Monate vergingen und die Scheune, in der Raquel Silencio das
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