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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Autoren: Noel Hardy
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dem Kuchenteller, auf dem die rot flammenden Erdbeeren unter ihrer Schicht aus süßem Gelee langsam matschig wurden. »Es tut mir leid. Ich sollte mich wohl für dich freuen, dass du wieder nach Hause kannst.«
    Â»Niemand verlangt von dir, dass du dich freust«, sagte er leise.
    Â»Dann sollte ich zumindest so tun, als würde es mir nichts ausmachen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Einfach so. Ich sollte eine Flasche Champagner aufmachen, unbeschwert und lachend – ist ja schließlich morgen Silvester –, und mit dir darauf anstoßen, dass du zurück darfst in den Himmel, mission accomplished . Und mir bleibt ja immer noch die Erinnerung an –«
    Â»Hör auf«, sagte Murat.
    Aber Emma dachte nicht daran, aufzuhören. »Ich könnte dir auch mein Taschentuch geben, damit du es an der Brust trägst wie die Ritter im Turnier früher, wenn du den Rück flug antrittst. Unter der Achsel wäre ja wahrscheinlich nicht sehr sinnvoll, falls du die Arme zum Fliegen ausbreitest. Oder nimmt man in solchen Fällen gar kein Taschentuch, sondern einen Handschuh? Aber das weißt du natürlich nicht, du bist ja kein Mensch –«
    Â»Warum hörst du nicht auf?«, fragte Murat unglücklich. »Ich habe doch gar keine Wahl. Was willst du denn?«
    Â»Nichts. Ich sollte dir dankbar sein, dass du vom Himmel geradewegs zu mir herabgestiegen bist und mir eine Woche deiner kostbaren Existenz als Engel geopfert hast. Oder vielleicht sollte ich dem Leiter eurer Personalabteilung dankbar sein, dem Allmächtigen im Dienst des Allermächtigsten. Schau mich nicht so an, ich weiß auch nicht, was ich an deiner Stelle tun würde. Wahrscheinlich bin ich nur enttäuscht, weil ich dachte, du bist vielleicht doch gar kein Engel, sondern nur ein ganz normaler Mann, in den ich mich verlieben kann und der sich in mich verliebt hat. Oder eifersüchtig, weil du fliegen kannst und ich nicht. Oder so was, keine Ahnung! Aber keine Angst, ich werde dich nicht aufhalten, und ich werde dir auch nicht nachweinen. Keine Träne!«
    Während sie redete, war Murat aufgestanden und ans Fenster getreten. »Warum kannst du nicht aufhören, immer nur an dich zu denken?«, fragte er. Er sah sie nicht an, sondern blickte hinunter auf die Straße. »Die abgebrochenen Absätze, die kaputten Regenschirme, die runtergefallene Farbtube, die zersprungene Vase, das Gerüst …« Er schien direkt zur Fensterscheibe zu sprechen, die unter seinem Atem beschlug. »Der Hund des Kurators, der dich in den Fußknöchel gebissen hat, die einhundertundsieben undzwanzig Karteikarten, auf denen du genau notiert hast, was dir alles widerfahren ist, all dein Pech, die ganzen Missgeschicke …«
    Â»Woher weißt du das von den Karteikarten?«
    Â»Die hat dein Anwalt als Kopie der Klageschrift beigelegt. Das weiß ich von unserer Rechtsabteilung.«
    Emma spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss, aber er redete weiter, ohne sie anzusehen. »Als der Junge zu dir gesagt hat, er küsst keine Mädchen mit Zahnspange, musste ich eine schwangere Frau aus Nordafrika vor dem Ertrinken retten, weil ihr Fluchtboot in der rauen See gekentert war. Als du deinen Flug nach Paris verpasst hast, war auf einer Ölplattform im Atlantik ein Feuer ausgebrochen, und einer meiner Schützlinge stand schon in Flammen. Als du den Kaffee mit Nagellackentferner getrunken hast, lief eine ältere Dame hinter ihrer Katze her auf eine Stadtautobahn. Und als dir die Vase runtergefallen ist, wartete ein Kind mit Knochenkrebs auf einen Rückenmarkspender, der es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen hatte und im letzten Moment alles wieder absagen wollte.«
    Einen Moment ließ er seine Stirn an die Scheibe sinken. »Auch bei uns im Himmel ist die Personaldecke dünn«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Ihr denkt immer, es gäbe himmlische Heerscharen im Überfluss, aber das stimmt nicht. Und immer, wenn jemand einen Schutzengel braucht, gibt es einen anderen, der ihn nötiger hat.« Jetzt sah er sie wieder an. »Weißt du noch, wann dein Pech angefangen hat?«
    Â»Nein. Aber du bestimmt. Du weißt ja alles.«
    Â»Du hattest Liebeskummer. Du warst verlassen worden, was jedem Jungen und jedem Mädchen mal passiert. Du warst hysterisch. Du hast nichts mehr gegessen, nichts getrunken, dich nur in Hemd und Höschen im
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