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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Autoren: Noel Hardy
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sein; nur weil er hier gelandet war, musste er nicht von hier aus auch wieder starten. Oder vielleicht war es gar keine Kirche, sondern irgendein Dach oder ein Platz. Vielleicht verwandelte er sich in eine Feuer werksrakete. Eine von den vielen, die hier in die Luft flogen. Damit er nicht auffiel.
    Sie lief nun langsamer. Die Stufen zum Hauptportal von Sankt Michael waren leer, die Türflügel geschlossen. Sie ging um die Kirche herum. Die Tür zur Sakristei war unversperrt. Sie zog sie auf und betrat den kleinen Raum hinter dem Altar. »Murat?«, rief sie leise, noch etwas außer Atem.
    Keine Antwort.
    Sie öffnete die Tür zum Kirchenschiff und ging weiter, um den Altar herum. Das Ewige Licht warf einen roten Schimmer auf den Steinboden.
    Murat stand auf dem sternförmigen Mosaik unter der Kuppel, seinem Lieblingsplatz in der Kirche, und sah zu der fast vollständig restaurierten Dreifaltigkeit empor. Von den Opferstöcken fiel ein schwacher Lichtschein auf den Steinboden. Offenbar hatte er ein paar Kerzen angezündet. Er schien darauf zu warten, dass etwas geschah, ohne zu wissen, was. Oder ob er etwas tun musste. Vielleicht erwartete er einen Lichtstrahl Gottes, der durch die Kuppel fiel, ihn erfasste und mit sich trug.
    Emma betrachtete ihn. Gab es so was wie einen Autopilot für Engel, die in den Himmel zurücknavigiert wurden? Oder musste er vielleicht beten – die Erlaubnis zur Rückkehr erbitten? Flügel, Wind, Luftwiderstand erflehen? War er zu schwer, musste er am Ende seine Kleider ausziehen?
    Emma trat hinter dem Altar hervor und rief: »Murat!«, diesmal etwas lauter. Zögernd drehte er sich um, verließ seinen Platz auf dem Mosaik und kam die Stufen zum Altar herauf. Nur mit Mühe konnte Emma sich davon abhalten, ihm um den Hals zu fallen. Ein paar Schritte von ihr entfernt blieb er stehen. »Du musst keine Angst haben – ich will mich nur bedanken!«, stieß sie hervor. »Ich habe jetzt kapiert, was du mir sagen wolltest. Bis du gekommen bist, war ich nur … Ich dachte, ich wäre stark, dabei war ich bloß selbstsüchtig. Ich werde versuchen, mich zu ändern, versprochen. Du darfst mich aber nie mehr alleinlassen, das musst du mir versprechen!«
    Â»Ich kann dir das nicht versprechen«, sagte er. »Das weißt du doch!«
    Â»Ich meine nicht hier unten«, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich weiß, dass du nicht hierbleiben kannst. Aber von da oben. Ich will spüren, dass du da bist! Das alles geht so schnell. Ich brauche dich noch eine Weile, um mich zurechtzufinden. Es ist mir noch nie so gut gegangen wie in den letzten Tagen mit dir. Ich will nicht wieder so werden wie vorher. Deswegen brauche ich dich auch weiter, damit du mir hilfst, zu lernen. Ich werde sonst … Ich werde vielleicht etwas komisch, weißt du.«
    Â»Das bist du schon«, sagte Murat fast zärtlich. Abrupt beugte er sich vor und küsste sie nun doch, ungeschickt, hastig und zu feucht, sodass sie seinen Mund kaum spürte – nur einen Moment noch die Nässe, die nach nichts schmeckte und schnell kalt wurde. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bleibe bei dir. Ich lasse dich nicht mehr unbeaufsichtigt. Bloß jetzt, jetzt muss ich jeden Moment los! Meine Aufgabe ist erfüllt.«
    Emma sagte: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du wirklich … Dass ihr meine Klage so ernst genommen habt.«
    Â»Das lag an der Bilanz«, erklärte Murat.
    Â»Welche Bilanz?«
    Â»Die Jahresabschlussbilanz.« Er warf einen Blick nach oben in die Kuppel. »Deswegen hatte ich auch nur sieben Tage Zeit, deswegen gab es die Silvester-Deadline. Wie jedes Jahr, wenn der 31. Dezember näher rückt, haben in den letzten Wochen noch einmal beide Seiten versucht, das Zünglein an der Waage zu ihrer Seite ausschlagen zu lassen. Begreifst du jetzt?«
    Â»Nein«, gestand Emma.
    Â»Wir sind allmählich am Ende unserer Kräfte«, führte er aus. »Aber nicht nur wir im Himmel, die in der Hölle auch. Völlig erschöpft, jedes Jahr ein bisschen mehr, nach Jahrhunderten immer wieder neuer Schlachten. Seit der Vertreibung aus dem Paradies gibt es immer noch ein allerletztes Gefecht zwischen Gut und Böse, Gott und Luzifer, Engeln und Teufeln. Und jedes Jahr am 31. Dezember wird Bilanz gezogen, wer in den vergangenen zwölf Monaten mehr Siege errungen hat. Kleine und große, wundersame und teuflische.
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