Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Denn niemand hört dein Rufen

Denn niemand hört dein Rufen

Titel: Denn niemand hört dein Rufen
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
nicht auf. Nur rief sie diesmal Natalie bei ihrem Namen, als sie erwachte. Die restliche Nacht blieb Alice wach und erging sich ununterbrochen in Erinnerungen an ihre Tochter, grübelte darüber nach, dass Natalie drei Wochen zu früh zur Welt gekommen war, genau an ihrem dreißigsten Geburtstag. Nachdem ihre Ehe zuvor acht Jahre lang kinderlos geblieben war, hatten sie und ihr Mann Natalie als wahres Geschenk des Himmels angesehen.
    Dann dachte Alice auch an den Abend vor wenigen Wochen, an dem ihre Schwestern darauf bestanden hatten, sie anlässlich ihres siebzigsten Geburtstags zum Essen auszuführen. Sie hatten die Gläser auf mein Wohl erhoben, waren aber davor zurückgeschreckt, Natalie zu erwähnen, erinnerte sich Alice, doch ich habe darauf bestanden, dass wir auch ihrer gedenken. Wir sind sogar so weit gegangen, Scherze darüber zu machen. »Glaubt mir, Natalie hätte niemals zugelassen, dass man ihren vierzigsten Geburtstag feiert«, hatte sie gesagt. »Ihr wisst doch, sie hat immer darauf hingewiesen, dass man im Showbusiness dazu verpflichtet sei, ewig jung zu bleiben.«
    Und jetzt ist sie tatsächlich bis in alle Ewigkeit jung, dachte Alice seufzend, als sie sich um sieben Uhr aus ihrem Sessel erhob und sich bückte, um ihre Hausschuhe überzustreifen. Morgens machten ihr ihre arthritischen Knie stets mehr zu schaffen als sonst. Sie verzog das Gesicht, als sie aufstand, dann öffnete sie die Fenster im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung an der West Sixty-fifth Street und zog
die Jalousien hoch. Wie immer wurde ihr beim Anblick des Hudson etwas leichter ums Herz.
    Natalie hatte ihre Liebe zum Wasser geerbt. Deshalb war sie so oft nach Cape Cod gefahren, und wenn es auch nur für ein, zwei Tage war.
    Alice zog den Kragen ihres weichen Frotteebademantels enger zusammen. Sie liebte frische Luft, doch in der Nacht war die Temperatur gefallen, und jetzt war es im Wohnzimmer empfindlich kalt. Sie stellte den Thermostat höher und ging in die kleine Küche. Der Kaffeeautomat war auf 6:55 Uhr eingestellt, der Kaffee war fertig aufgebrüht, die Tasse stand daneben bereit.
    Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie wenigstens eine Scheibe Toast essen sollte, doch sie hatte einfach keine Lust darauf. Sie überlegte, was die Staatsanwältin sie wohl fragen würde, als sie die Tasse zur Essecke trug und sich an den Tisch auf den Platz setzte, der die beste Aussicht auf den Fluss gewährte. Und was könnte ich dem hinzufügen, was ich bereits vor mehr als zwei Jahren den Ermittlern gesagt habe? Dass Gregg eine Versöhnung wollte und er Natalie drängte, zu ihm zurückzukehren?
    Dass ich Gregg sehr gern hatte?
    Dass ich ihn jetzt verachte?
    Dass ich nie verstehen werde, wie er ihr das antun konnte?
     
    Alice beschloss, einen schwarzen Hosenanzug mit einer weißen Bluse anzuziehen. Ihre Schwester hatte ihn für sie gekauft, für Natalies Beerdigung. Sie hatte in den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, ein bisschen Gewicht verloren und wusste, dass er ziemlich lose an ihr herunterhängen würde, doch das war ihr letztlich gleichgültig. Sie
tönte ihre Haare nicht mehr, die mittlerweile schneeweiß geworden waren, dafür aber natürliche Wellen besaßen, die ihr manchen Gang zum Friseur ersparten. Durch den Gewichtsverlust waren die Falten in ihrem Gesicht tiefer geworden, und sie hatte nicht mehr die Energie, sich den regelmäßigen Gesichtsbehandlungen zu unterziehen, zu denen sie Natalie immer überredet hatte.
    Das Treffen war auf zehn Uhr festgesetzt. Um acht fuhr Alice nach unten, ging zu Fuß bis zur Station einen Häuserblock hinter dem Lincoln Center und nahm eine U-Bahn, die am riesigen zentralen Busbahnhof der Hafenbehörde hielt. Auf der kurzen Fahrt musste sie an das Haus in Closter denken. Ein Makler hatte ihr dringend geraten, es nicht zu verkaufen, solange noch täglich in den Zeitungen etwas über Natalie zu lesen war. »Warten Sie eine Weile«, hatte er ihr vorgeschlagen. »Dann lassen Sie alle Wände weiß streichen. Das wird dem Haus eine angenehme saubere und frische Ausstrahlung verleihen. Und erst dann werden wir es zum Verkauf anbieten.«
    Alice war natürlich klar, dass der Mann nicht unhöflich oder unsensibel hatte erscheinen wollen. Es war einfach nur der Gedanke, dass Natalies Tod auf irgendeine Art und Weise weggewaschen werden musste, der ihr einen schmerzhaften Stich versetzt hatte. Als sein Exklusivrecht auf den Verkauf des Hauses erlosch, hatte sie es nicht erneuert.
    Als sie den Busbahnhof
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher