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Denn niemand hört dein Rufen

Denn niemand hört dein Rufen

Titel: Denn niemand hört dein Rufen
Autoren: Mary Higgins Clark
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kaum verhüllte Aufregung, von der manche Leute ergriffen werden, wenn sie zu Zaungästen bei einer sensationellen Kriminalgeschichte werden. Ich hoffe, du amüsierst dich gut, dachte er bitter.
    Im Fahrstuhl zu seiner Wohnung im vierzehnten Stock fragte er sich: Wie konnte das alles passieren? Und warum war er Natalie nach Cape Cod hinterhergefahren? Und war er an jenem Montagmorgen tatsächlich nach New Jersey gefahren? Er war so durcheinander, müde und wütend gewesen, als er nach Hause gekommen war, dass er gleich zu seiner üblichen Joggingrunde im Central Park aufgebrochen war und später schockiert festgestellt hatte, dass er fast zweieinhalb Stunden unterwegs gewesen war.
    Aber hatte er auch tatsächlich so lange gejoggt?
    Blanke Angst packte ihn, als ihm klarwurde, dass er sich dessen nicht mehr so sicher war.

6
    E mily war sich im Klaren darüber, dass das Zusammenwirken von Marks Tod und ihrer plötzlichen Krankheit sie ungeheuer schwer getroffen hatte. Dazu kamen noch die Heirat ihres Vaters, sein geplanter Umzug nach Florida und die Tatsache, dass ihr Bruder Jack einen Job in Kalifornien angenommen hatte – lauter schwere Schläge, die sie zusätzlich mitgenommen hatten.
    Sie hatte sich sehr tapfer gegeben, als ihr Vater und ihr Bruder sich besorgt äußerten, sie ausgerechnet in dieser Lebenskrise allein zu lassen. Sie wusste, dass ihr Vater ein wenig sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, als er ihr unter Jacks aufrichtiger Zustimmung das Haus überschrieben hatte.
    Aber sie sollten sich gar nicht schuldig fühlen, dachte sie. Mom ist vor zwölf Jahren gestorben. Dad und Joan kennen sich seit fünf Jahren. Sie gehen beide auf die siebzig zu. Sie sind begeisterte Segler, und dort unten können sie das ganze Jahr über ihrer Leidenschaft frönen. Und natürlich konnte sich Jack diesen Job nicht entgehen lassen. Er muss auch an Helen und seine beiden kleinen Kinder denken.
    All dies war Emily bewusst, und dennoch hatte die Tatsache, dass sie nun nicht mehr regelmäßigen Umgang mit ihrem Vater, ihrem Bruder und dessen Familie pflegen konnte, es ihr noch schwerer gemacht, sich an ein Leben ohne Mark zu gewöhnen. Natürlich war es wunderbar, wieder
in diesem Haus zu sein – es hatte etwas von einer »Rückkehr in Mutters Schoß« an sich, die tröstend und heilend wirkte. Andererseits waren die Nachbarn, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte, im Alter ihrer Eltern. Und für diejenigen, die ihre Häuser verkauft hatten, waren Familien mit jungen Kindern gekommen. Die einzige Ausnahme war dieser stille, kleingewachsene Typ, der das Haus nebenan gemietet und der ihr schüchtern mitgeteilt hatte, dass er handwerklich sehr geschickt sei, falls mal etwas bei ihr repariert werden müsse.
    Ihr erster Impuls war gewesen, ihn rundheraus abzuweisen. Ein direkter Nachbar, der sich unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft an sie heranmachen wollte, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Doch als die Monate vorübergingen und sie Zach Lanning nur zu Gesicht bekam, wenn sie zufällig zur gleichen Zeit wegfuhren oder nach Hause kamen, schwächte sich Emilys Misstrauen allmählich ab.
    In den ersten Wochen, nachdem ihr der Aldrich-Prozess zugewiesen worden war, hatte sie lange Stunden damit zugebracht, die Akte zu studieren und sich die Fakten anzueignen. Von Anfang an kam sie nicht umhin, das Büro um fünf Uhr zu verlassen, nach Hause zu rasen, um Bess zu füttern und auszuführen, und dann wieder ins Büro zurückzukehren und bis neun oder zehn Uhr weiterzuarbeiten.
    Es gefiel ihr, dass ihr Beruf sie so forderte. So hatte sie weniger Zeit, über ihren eigenen Kummer nachzudenken. Und je mehr sie über Natalie erfuhr, desto mehr empfand sie eine gewisse Seelenverwandtschaft mit ihr. Sie waren beide in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt, Natalie wegen einer zerbrochenen Ehe, Emily wegen eines gebrochenen
Herzens. Emily hatte haufenweise Informationen über Natalies Leben und Karriere gesammelt. Sie hatte immer gedacht, Natalie sei von Natur aus blond gewesen, doch aus dem Hintergrundmaterial war hervorgegangen, dass sie ihre Haarfarbe mit Anfang zwanzig geändert hatte. Als sie ältere Bilder von ihr sah, stellte sie zu ihrer Verblüffung fest, dass es eine unbestreitbare äußere Ähnlichkeit zwischen ihnen gab. Die Tatsache, dass Natalies Großeltern aus demselben County in Irland stammten, in dem auch ihre Großeltern geboren wurden, brachte Emily auf den Gedanken, ob sie nicht vor vier oder
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