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Den du nicht siehst

Den du nicht siehst

Titel: Den du nicht siehst
Autoren: Mari Jungstedt
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Brief gefunden hatte. Er hatte im Schlafzimmer seiner Mutter gesessen. Seine Eltern schliefen schon seit vielen Jahren getrennt. Er wunderte sich nicht weiter darüber. Er hatte noch nie gesehen, dass sie sich umarmt oder irgendwelche Zärtlichkeiten ausgetauscht hätten. Seine Mutter hing dort draußen. Es konnte dauern, bis sein Vater nach Hause kam. Ihm blieb also Zeit, ihr Zimmer zu durchsuchen, dann würde er die Polizei anrufen und mitteilen, dass er seine Mutter erhängt in der Scheune aufgefunden habe. Er zog die Schubladen aus ihrem Schreibtisch und sah sie systematisch durch. Alte Zettel mit nahezu unlesbaren Notizen, Quittungen, Fotos dieser verdammten Katze, die seine Mutter geliebt hatte. Sie hat dieses Tier mehr geliebt als uns, dachte er verbittert. Einige scheußliche Schmuckstücke, ein Fingerhut, Kugelschreiber, aus denen fast alle Tinte ausgelaufen war. Wann hat sie wohl zuletzt ihre Schubladen aufgeräumt?, fragte er sich.
    Dann fand er etwas, das sein Interesse weckte. Ganz unten in einer Schublade lag ein vergilbter, zerknitterter Briefumschlag. Er las die Aufschrift. An Gunvor.
    Die Handschrift seines Vaters. Er runzelte die Stirn und öffnete den Umschlag. Der Brief bestand aus einem einzigen Blatt. Es war undatiert.
     
    Gunvor.
    Ich war die ganze Nacht wach und habe mir alles überlegt und bin nun bereit, dir zu sagen, was in der letzten Zeit mit mir los war. Ich weiß, dass du dir deine Gedanken gemacht hast, aber wie üblich hast du nichts gesagt.
    Ich habe eine andere Frau kennen gelernt. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebe ich Liebe. Ich wollte das nicht, es ist einfach passiert, und ich konnte nicht dagegen an.
    Ich treffe mich seit einem halben Jahr mit dieser Frau. Ich hielt es zuerst nur für einen Flirt, für eine Episode, aber jetzt habe ich erkannt, dass es ernst ist. Ich liebe sie von ganzem Herzen und habe mich entschlossen, mein Leben mit ihr zu teilen. Außerdem ist sie schwanger. Und ich will mich um sie und um unser Kind kümmern.
    Wir wissen beide, dass du mich nie geliebt hast. Ich habe oft über deine Gefühlskälte gestaunt, und ich habe darunter gelitten. Und diese Gefühlskälte hat sich nicht nur gegen mich gerichtet, sondern auch gegen die Kinder. Jetzt ist mit allem Schluss. Ich habe eine Frau gefunden, die mich wirklich liebt. Es handelt sich um eine meiner Schülerinnen, sie heißt Helena Hillerström. Wenn du diesen Brief findest, bin ich in eine Wohnung in der Stadt gezogen. Ich rufe dich an.
    Jan.
     
    Er hatte den Brief zerknüllt, während die Tränen in seinen Augen brannten. Ausgerechnet Helena Hillerström. Dann traf er eine Entscheidung.

 
     
     
     
    Emma erwachte, weil ihr kalt war. Es war dunkel, und die Luft war stickig. Sie lag auf einer harten, kalten Unterlage. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ein Lichtstreifen sickerte durch einen schmalen Schacht nahe der Decke. Sie befand sich offenbar in einem unterirdischen Raum. Boden und Wände waren aus Beton, und in dem Raum gab es nur zwei an gegenüberliegenden Wänden befestigte Pritschen. Auf einer lag sie. Der Raum war klein und niedrig. Es gab keine Tür. In der Decke befand sich jedoch eine Eisenluke. Eine rostige Leiter war an der Wand befestigt und führte zu der Luke hoch. Sie war in einem Bunker eingesperrt. Auf Gotland und Fårö gab es viele davon. Als Kinder hatten sie gern darin gespielt.
    Ihr Hals war trocken, und im Mund hatte sie den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem. Außerdem pochte in ihrem Hinterkopf ein quälender Schmerz. Sie wollte fühlen, ob sie blutete, aber das war unmöglich, da sie an Händen und Füßen gefesselt war. Ihr Blick jagte über die grauen, feuchten Mauern. Die Dachluke war der einzige Ausweg, aber die war sicher von außen versperrt. Emma fragte sich, wieso sie hier lag. Wo war Hagman, und warum hatte er sie nicht sofort umgebracht? Die Fesseln taten ihr weh. Sie hatte keine Vorstellung, wie spät es sein mochte oder wie lange sie schon hier lag. Ihr Körper war steif und schmerzte. Mit einiger Anstrengung konnte sie sich aufsetzen. Sie reckte sich und versuchte vergeblich, durch den Lichtschacht hinauszublicken. Sie bemühte sich, ihre Hände zu bewegen. Aber die Fesseln erlaubten es kaum.
    Sie horchte, hörte aber nichts. Kein Laut drang von außen herein. Im Laub, das den Boden bedeckte, raschelte etwas. Eine braun gefleckte Kröte. Und da war noch eine. An der Decke saßen einige Nachtfalter. Die Luft war
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