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Den du nicht siehst

Den du nicht siehst

Titel: Den du nicht siehst
Autoren: Mari Jungstedt
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sie ein. Emma und Beata kümmerten sich um Helena. Eva versorgte Kristian, half ihm, das Blut abzuwischen und einen Eisbeutel aufzulegen, um die Schwellung zu mildern. Olle bestellte Taxis. Die Party war eindeutig zu Ende.

Dienstag, 5. Juni

 
     
    Als Helena am nächsten Morgen um halb sieben die Augen aufschlug, dröhnte ihr Kopf. Wenn sie verkatert war, erwachte sie immer ganz besonders früh. Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken im Bett, die Arme an den Seiten, in einer Art liegender Habt-Acht-Stellung. Als habe sie sich während der Nacht auch nicht einen Zentimeter weit bewegen wollen, um jeglichen Körperkontakt mit Per zu vermeiden, der nur eine Handbreit von ihr entfernt lag. Sie sah ihn an. Er schlief, atmete tief und regelmäßig und hatte sich komplett in seine Decke gewickelt. Nur seine braunen Locken schauten heraus.
    Im Haus war es dunkel, allein Spencers leichtes Schnarchen war zu hören. Der Hund hatte noch nicht bemerkt, dass sie wach war. Helena fühlte sich verspannt, ihr war schlecht. Sie starrte an die weiße Decke, und es dauerte einige Sekunden, bis ihr einfiel, was am Vorabend passiert war.
    Nein, dachte sie, nein, nein, nein. Nicht schon wieder. Pers Eifersucht hatte ihnen schon so oft Probleme bereitet, aber im vergangenen Jahr war alles besser geworden. Das musste sie zugeben. Und jetzt dieser Rückschlag. Wie eine gigantische Bauchlandung. Schmerz loderte in ihr auf, als sie das Ausmaß dessen erkannte, was geschehen war. Es betraf nicht nur sie und Per. Er hatte den gesamten Freundeskreis mit hineingezogen. Auf der Party. Die so schön angefangen hatte.
    Nach dem Essen hatten sie getanzt. Natürlich war Kristians Hand auf ihrem Rücken ein wenig zu tief geglitten, als ihre Körper sich bei einem ruhigen Stück aneinander geschmiegt hatten. Sie hatte flüchtig mit dem Gedanken gespielt, sie wegzuschieben, war aber viel zu beschwipst gewesen, um die Situation wirklich ernst zu nehmen.
    Ohne Vorwarnung hatte Per sie von Kristian weggerissen. Auf der Veranda hatte er sie mit Vorwürfen überschüttet. Außer sich vor Wut hatte sie ihn angeschrien, gehöhnt und getaucht. Als er sie schüttelte, schlug sie nach ihm, kratzte und biss. Am Ende hatte er ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie stürzte auf die Toilette.
    Schockiert hatte sie vor dem Spiegel in der Toilette gestanden und ihr zu einer stummen Grimasse verzerrtes Gesicht angestarrt. Mit zitternden Fingerspitzen ihre anschwellende Oberlippe berührt. Er hatte sie noch nie geschlagen.
    Emma und Olle waren geblieben, bis Per einschlief und auch Helena die Augen kaum noch aufhalten konnte.
    Trotz allem hatten sie die Nacht im selben Bett verbracht.
    Sie konnte nicht begreifen, warum alles so schief gegangen war. Sie überlegte, wie der Tag wohl verlaufen würde. Wie sollten sie aus dieser Sache wieder herauskommen? Eifersuchtsdrama, Prügelei. Sie führten sich auf wie unreife Drecksgören, unfähig, sich mit Freunden einen schönen Abend zu machen. Sie waren erbärmlich. Helenas schlechtes Gewissen lag ihr im Magen wie ein schwerer Stein.
    Vorsichtig stieg sie aus dem Bett; sie hatte Angst, Per zu wecken. Sie schlich zur Toilette, pinkelte und musterte ihr gelblich-bleiches Gesicht im Spiegel. Suchte nach Spuren dafür, dass sie am Vorabend misshandelt worden war. Aber sie fand keine. Die Schwellung war bereits zurückgegangen. So hart hat er also doch nicht zugeschlagen, dachte sie. Als könne das ein Trost sein. Sie ging in die Küche und trank eine halbe Dose Cola, kehrte ins Badezimmer zurück und putzte sich die Zähne.
    Der Boden unter ihren bloßen Füßen war kühl, als sie von einem Zimmer ins andere ging. Spencer folgte ihr wie ein Schatten. Sie zog sich an, lief zur Freude des Hundes in die Diele und schlüpfte in ihre Turnschuhe.
    Die Morgenluft schlug ihr entgegen, kalt und befreiend, als sie die Tür öffnete.

 
     
     
     
    Sie nahm den Weg, der zum Meer hinunterführte. Spencer trabte mit hoch erhobenem Schwanz neben ihr her, rannte durch das Gras am Wegesrand und setzte ab und zu eine Duftmarke. Der Labrador mit dem glänzenden schwarzen Fell war ein guter Wachhund und Helenas ständiger Begleiter. Sie atmete tief durch, und ihre Augen tränten in der Morgenkälte.
    Als sie über die Dünenkrone zum Strand hinunterstieg, umhüllte sie dichter grau-weißer Nebel. Der Horizont war nicht mehr zu erkennen. Das stahlgraue Wasser schien regungslos. Es war auffallend still. Nur eine einsame Möwe stieß hoch über dem
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