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Demokratie! - wofür wir kämpfen

Demokratie! - wofür wir kämpfen

Titel: Demokratie! - wofür wir kämpfen
Autoren: Campus
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Kommunikation in der Fabrik des Industriezeitalters könnte darüber einen ersten Aufschluss geben. Anfang der 1960er Jahre untersuchte Romano Alquati die Information, die Arbeiter im Olivetti-Werk im italienischen Ivrea produzierten. Dabei stellte er fest, dass die Arbeiter »Wertinformation« weitergaben, die Managementbürokratie dagegen »Kontrollinformation«. Ausgehend von dieser Erkenntnis unterscheidet Matteo Pasquinelli zwischen lebendiger und toter Information, analog zur lebendigen und toten Arbeit bei Marx: »Die Arbeiter produzieren fortwährend lebendige Information, und diese wird von den Maschinen und dem bürokratischen Apparat in tote Information übersetzt.« Das heißt, in der Fabrik gibt es mindestens zwei Informationskreisläufe: Die tote Sprache des Managements und der Maschinen dient der Disziplinierung und dem Gehorsam, und der Austausch lebendiger Information unter den Arbeitern lässt sich im gemeinsamen Handeln und der Gehorsamsverweigerung mobilisieren. So wie den Menschen in der Rolle der Verschuldeten ihre Produktivität geraubt wird, wird ihnen in der Rolle der Vernetzten ihr Potenzial entwendet. Oder anders ausgedrückt ersticken die Vernetzten unter toter Information und sind nicht mehr in der Lage, lebendige Information zu schaffen.
    Marx traf eine ähnliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Information und Kommunikation, als er behauptete, die französischen Bauern Mitte des 19. Jahrhunderts seien nicht in der Lage, als Klasse zu handeln. Da die Bauern verstreutlebten und nicht effektiv miteinander kommunizieren könnten, seien sie nicht zu gemeinsamem politischem Handeln in der Lage und könnten kein Klassenbewusstsein entwickeln, so Marx. Dabei verglich er die Bauern mit den Angehörigen des städtischen Proletariats, die miteinander kommunizieren, politisch handeln und ein Klassenbewusstsein entwickeln können. Die mangelnde Information und Kommunikation der Bauern ist jedoch keine Frage der Quantität. Marx behauptet nicht, dass die Bauern Louis Bonaparte die Gefolgschaft verweigert hätten, wenn sie Zeitungen gelesen und von seinen politischen Intrigen, sinnlosen Kriegen und Spielschulden gewusst hätten. Die wichtigste Kommunikationsform, die den Arbeitern zur Verfügung stand und den Bauern nicht, war die räumliche, physische Nähe in der Fabrik. Die Klasse beziehungsweise die Grundlage des politischen Handelns entsteht nicht in erster Linie durch die Weitergabe von Informationen oder Gedankengut, sondern durch die Schaffung politischer Leidenschaften, und diese erfordert physische Nähe.
    Die Protestcamps und Occupy-Proteste des Jahres 2011 haben diese Erkenntnis wiederentdeckt. So nützlich Facebook, Twitter, und andere Kommunikationsmedien sein mögen, nichts kann die körperliche Nähe und die physische Kommunikation ersetzen, die Grundlage der politischen Intelligenz und Voraussetzung des politischen Handelns sind. In den Occupy-Protesten in den Vereinigten Staaten und im Rest der Welt, von Frankfurt bis Rio de Janeiro, von Ljubljana bis Amsterdam erlebten die Teilnehmer, wie in der Gemeinsamkeit starke politische Leidenschaften geschaffen werden. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant, dass der erste Aufruf zur Besetzung der Wall Street, der im Sommer 2011 in Adbusters erschien, in künstlerischemTon gehalten war und zunächst unter anderem von Künstlerkollektiven in New York befolgt wurde. Eine Besetzung ist eine Art Happening, eine Performancekunst, die politische Leidenschaften hervorbringt.
    Auch die Angehörigen der Mittelschichten und der traditionellen Linken erkennen, wie weitgehend uns Mediensysteme fesseln und unser Potenzial rauben, doch ihre einzige Reaktion darauf ist eine Mischung aus Nostalgie und Zeigefinger. Sie wissen, dass die Medien – Print- ebenso wie Bild- und elektronische Medien – immer oberflächlichere Erfahrungen schaffen, je tiefer sie in unser Leben eindringen. Der persönliche Brief, der langsam mit der Hand verfasst und zur Post gebracht wird, wurde fast völlig durch die knappe und schnelle E-Mail verdrängt. An die Stelle komplexer Darstellungen unserer Lebensumstände, Sehnsüchte und Wünsche treten die typischen Fragen der sozialen Medien: »Was machst du gerade?« oder »Wo bist du?«. Die »Freundschaftsanfrage« verwässert unsere Vorstellung von echter Freundschaft. Die breite Unterstützung für die Occupy-Proteste erklärt sich vielleicht auch daraus, dass die Mittelschicht und die
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