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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur
Autoren: Michael Tsokos
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unseres Obduktionsteams, bevor wir mit der Leichenschau begannen. In der Tat hatte das Feuer jegliche Geschlechtsmerkmale unkenntlich gemacht, der Körper war nur noch ein Gerüst aus versengten Knochen, über dem sich faseriges, verkohltesFleisch und einige Stoffreste der Kleidung wie ein bizarrer Flickenteppich ausbreiteten.
    Auch ich selbst hatte selten eine derart zerstörte Leiche gesehen. Das gesamte Fettgewebe und die Muskeln waren verbrannt. Das war nicht weiter verwunderlich: Menschliches Fett besteht aus öligen Komponenten, die bei entsprechend hohen Temperaturen sehr gut brennen. Das Weichgewebe, also Haut, Unterhaut- und Körperfettgewebe, war so gut wie nicht mehr vorhanden, und die verkohlten Gewebereste hingen in unterschiedlich breiten Fasern von den verbrannten Knochen herunter.
    Wenn fast alles Gewebe verbrannt ist, kann man keine Rückschlüsse mehr auf den Körperbau des Todesopfers ziehen. Deshalb konnten wir auch nicht feststellen, ob er oder sie zu Lebzeiten durchschnittlich viel gewogen oder an Unterernährung oder Übergewicht gelitten hatte. Körperlänge und Gewicht waren nicht mehr zu rekonstruieren.
    Sind bei einer Leiche mehrere Extremitäten abgerissen, schauen wir uns diese bei der Leichenschau zuerst an. Oft kann man so erste Hinweise darauf erhalten, wie jemand zu Tode gekommen ist. Ansonsten gehen wir bei einer Leichenschau immer von oben nach unten vor: Wir fangen mit dem Kopf an und untersuchen zuletzt die Füße. Bei der Person vor uns war der rechte Unterarm abgerissen. In einem solchen Fall sprechen wir von einer »traumatischen Amputation«. Traumatisch heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes als: durch Gewalteinwirkung.
    Elle und Speiche, die beiden Knochen, die Hand- undOberarmknochen verbinden, waren vollständig durchtrennt, der gesamte Bewegungsapparat des rechten Ellbogengelenkes – Bänder, Gelenkkapsel und Knorpel – war verbrannt. Das Gelenk lag frei: verrußte Knochen, zwischen denen verkohltes Gewebe klebte wie in der Sonne geschmolzenes Gummi. Auch das rechte Bein fehlte vom Oberschenkel abwärts, dort, wo einmal das Kniegelenk gewesen war, sahen wir nur noch einen schwarzen Krater.
    »Traumatische Amputationen und Beschädigung der rechtsseitigen Extremitäten«,
    diktierte ich für das Protokoll.
    Normalerweise – das heißt bei allen Routinefällen – diktiere ich den Großteil dessen, was ich bei der äußeren Leichenschau und Obduktion feststelle, erst hinterher, manchmal sogar erst abends nach der Schicht im Sektionssaal. Hin und wieder notiere ich mir vor der nächsten Leiche einige Details, um sie bis zum späteren Diktat nicht zu vergessen. In Zweifelsfällen wie diesem jedoch liegt das Diktiergerät immer in Reichweite. Der federführende Rechtsmediziner oder auch erste Obduzent spricht seine Beobachtungen auf Band, die Grundlage für den schriftlichen Bericht, und diese Aufzeichnung verwandelt das Sekretariat später in das Sektionsprotokoll, das anschließend vom ersten und zweiten Obduzenten gegengelesen und dann von beiden unterschrieben wird.
    Bei dem Toten vor uns konnte man kaum noch von Haut und Gewebe sprechen. Vor uns lag eine schwarzbraune, zerschmolzene, amorphe Masse, bei der nur der skelettierte Schädel und die Überbleibsel von Armen und Beinen daran erinnerten, dass dies einmal ein Mensch gewesen war. Die Explosion hatte die Brust offensichtlich frontal erwischt, denn die Brusthöhle war aufgesprengt. Drei Rippen waren vom Feuer komplett zerstört worden, die anderen ragten zum Teil schwarz und verbogen aus dem Torso heraus wie die Planken eines verbrannten Schiffes. Wir konnten Lunge und Zwerchfell sehen, die auf ein Viertel ihrer Größe zusammengeschrumpft waren. Durch die Hitze hatte sich die Luft im Darm erwärmt. Dadurch hatte sich in der Bauchhöhle ein derart hoher Druck aufgebaut, dass schließlich die Bauchdecke aufgeplatzt war. Teile des Dünndarms, angesengt und durch die Hitze zusammengeschrumpft, waren aus der Wunde hervorgequollen und verteilten sich schwarz und gekräuselt über den Unterleib. Als wir die Leiche auf den Sektionstisch transportiert hatten, hatten sie sich bewegt. »Wie Aale«, hatte einer der anwesenden Medizinstudenten gesagt und sich abgewandt.
    Hals und Kopf sahen nicht besser aus. Der gesamte Schädel war weißgrau verfärbt oder, wie der Rechtsmediziner sagt, »verascht«. Die Augenhöhlen waren leer – wie bei einem Totenschädel. Solche Augenhöhlen haben für mich immer etwas
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