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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur
Autoren: Michael Tsokos
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Vorwurfsvolles. Auch Ober- und Unterkiefer waren nur noch Ruinen aus Knochen. Mehrere Zähne waren vollständig verbrannt oder durch die große Hitze bröckelig geworden. Die Zunge hatte die Beschaffenheit von gekochtem Fleisch.
    Als wir die äußere Leichenschau beendet hatten und gerade mit der Obduktion beginnen wollten, winkte uns ein Mitarbeiter der Rechtsmedizin durch die Glasscheibe herbei, die den Sektionssaal von dem Korridor des Instituts trennt. Der zuständige Ermittler war gekommen und wartete in einem der Büros.
    Solche Szenen kennt man ja aus dem »Tatort«: Ein aufgeregter Kommissar kommt in die Rechtsmedizin, in der Hoffnung, dort weitere Hinweise für seine Ermittlungen zu erhalten oder dem Rechtsmediziner oder der Rechtsmedizinerin zu sagen, worauf er oder sie bei der Obduktion besonders achten soll. Tatsächlich werden wir im Institut hin und wieder von dem zuständigen Ermittler besucht, sowohl aus dem einen wie aus dem anderen Grund. In den meisten Fällen allerdings erhalten wir Informationen oder Anfragen per Telefon oder schriftlich per E-Mail und Fax.
    Wir erfuhren nun vom Kommissar, dass die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle (KTU) wegen des zerschmolzenen Metalls bisher nur den wahrscheinlichen Fahrzeugtyp – vermutlich ein Audi – hatten ermitteln können. Da die Oberfläche des Metalls durch das Feuer so stark geschmolzen war, dass die Fahrzeugnummer nicht mehr zu entziffern war, musste eine exaktere Identifizierung des Wagens über ein langwierigeres technisches Verfahren vorgenommen werden.
    Viel entscheidender für unsere Arbeit aber war die Information, dass eine Frau aus Aalsfeld ihren Mann als vermisst gemeldet hatte. Der Kommissar umriss für uns die wichtigsten Punkte ihrer Aussage:
    Schon als die etwa 45-jährige Dora Klein die Feuerwehrsirenen gehört hatte, hatte sie befürchtet, dass dies mit ihrem Ehemann zusammenhängen könnte. Dieser hatte sich in letzter Zeit eigentümlich benommen. Schon seit längerem hatte es in der Ehe gekriselt, da ihr Mann Thomas ein Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes angefangen hatte. Nach häufigen Streitereien und Gesprächen mit seiner Frau hatte Thomas Klein sein Fehlverhalten eingesehen und seit einiger Zeit bei Freunden im Nachbarhaus gelebt, um Abstand zu gewinnen. »Ich bin ein Schwein«, hatte er angeblich seiner Frau gegenüber erklärt.
    Auf die Aussage der Frau hin hatte die Kripo zwei Beamte losgeschickt, um auch den Sohn, Nicolas Klein, zu befragen. Und der hatte ausgesagt, dass sein Vater sich von ihm am Vorabend »auf seltsame Weise verabschiedet« habe: »Du kannst alles behalten. Ich gehe jetzt weg.« Im Anschluss an diese Worte habe er seinen Sohn in den Arm genommen, »ich habe dich lieb« gesagt und das Zimmer verlassen. Dass er sich das Leben nehmen wolle, hatten jedoch weder Frau noch Sohn vermutet.
    Obwohl es natürlich keinerlei Beweis gab, dass diese Geschichte mit unserem Fall zusammenhing, waren die Aussagen für uns Grund genug, bei der Obduktion verstärkt nach Hinweisen für einen Suizid zu suchen.
    In der Rechtsmedizin sprechen wir übrigens grundsätzlich von »Suizid«, niemals von »Selbstmord«, denn juristisch gesehen ist der Begriff Selbstmord ein Widerspruch in sich. Um nach der juristischen Definition die Voraussetzung dafür zu erfüllen, ein Mörder zu sein,muss der Täter nach § 211 des deutschen Strafgesetzbuches aus den Motiven Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder aus sonstigen niederen Beweggründen handeln. Solche Motive wird man einem Lebensmüden wohl kaum unterstellen können.
    Wer sich selbst tötet, tut dies nicht, um anderen Menschen zu schaden, sondern weil er keinen Ausweg mehr aus einer scheinbar hoffnungslosen Situation sieht. Entsprechend heißt jemand, der sich das Leben genommen hat, bei uns Rechtsmedizinern nicht Selbstmörder, sondern Suizident.
    Anders sieht die Sache bei dem sogenannten Selbstmordattentäter aus, da es diesem primär darum geht, eine große Anzahl an Menschen zu töten, und er seinen eigenen Tod nur billigend in Kauf nimmt. Er gilt auch juristisch gesehen als Mörder.
    Dass jemand ausgerechnet an einem sommerlichen Frühlingstag Suizid begeht, mag einem psychisch gesunden Menschen erst einmal unwahrscheinlich vorkommen, doch die Statistik besagt, dass dies sogar der Normalfall ist. Der Grund ist einleuchtend: Gerade in der dunklen Jahreszeit fällt Depressiven die Akzeptanz der eigenen »dunklen«
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