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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur
Autoren: Michael Tsokos
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Anatomiesaal zu stehen, ist mir heute ein Rätsel.
    Während des Studiums weckte dann auch zuerst die Anatomie mein Interesse, und ich schwankte ständig zwischen den Überlegungen, später Chirurg, Pathologe, Neurologe, Psychiater oder doch Internist oder Kardiologe zu werden. Als ich dann in einem der letzten Semester, kurz vor dem Staatsexamen, die Vorlesung im Fach Rechtsmedizin hörte, wusste ich, worauf ich immer gewartet hatte. Hier schienen alle Fäden zusammenzulaufen, hier fand ich zum einen auf Grundlage der Anatomie und Pathologie den gesamten medizinischen Fächerkanon wieder, zum anderen reizte mich die psychologische Komponente. Kein anderer Arzt schaut so tief in die menschlichen Abgründe wie der Rechtsmediziner.
    Seit meiner damaligen Entscheidung, mich auf Rechtsmedizin zu spezialisieren, sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, davon 15 Jahre in der Rechtsmedizin. In dieser Zeit habe ich etwa 9.500 Obduktionen verantwortlich durchgeführt, war bei mehr als 14.000 weiteren Obduktionen zugegen und habe in den verschiedensten Leichenhallen und Krematorien Norddeutschlands etwa 33.000 äußere Leichenschauen durchgeführt. An den beiden rechtsmedizinischen Instituten in Berlin, deren Direktor ich bin – dem Institut für Rechtsmedizin der Charitéund dem Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin –, werden pro Jahr knapp 2.000 Obduktionen durchgeführt.
    Ich werde oft gefragt, wie ich es aushalte, in diesem Beruf zu arbeiten, täglich auf so direkte Weise mit dem Tod konfrontiert zu werden. Die Frage ist berechtigt, denn ich habe mit Sicherheit mehr Leid und Grauen gesehen als 99 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft. Feuerwehrleute und Polizisten, die schreckliche Dinge gesehen haben, werden psychologisch betreut, bekommen professionelle Supervision. Wie also verarbeite ich meine Eindrücke?
    Ich kann Ihnen versichern, ich bin weder drogenabhängig noch Feierabendalkoholiker, weder depressiv noch traumatisiert. Ich schlafe nachts sehr gut und bin noch nie aus Alpträumen hochgeschreckt, die irgendetwas mit meinem Beruf zu tun hatten. Auch wenn mein Job wie kein anderer ist, kompensiere ich den Stress, die Anspannung und auch die besonderen Herausforderungen, die dieser Beruf mit sich bringt, genau so, wie es »normale« Arbeitnehmer bei ihren »normalen« Jobs machen: mit Laufen an der Spree oder im Tiergarten, Wochenenden an der Ostsee mit meiner Familie, Treffen mit Freunden, mit Kino, Theater oder einem spannenden Buch. Und auch wenn wir im Sektionssaal keine Musik hören, wie es bei den Kollegen im Fernsehen zuweilen der Fall ist, so ziehen wir Rechtsmediziner nicht mit Leichenbittermiene durchs Leben. Und in der Art, wie wir miteinander umgehen, sind wir nicht anders als andere erfolgreiche Teams in ihren Berufen. Aber etwas ist sowohl für mich als auch fürmeine Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig: In unserem Beruf muss man objektiv bleiben und Distanz halten: zu dem Geschehen, zu den Opfern, zu den Tätern und zu den eigenen Emotionen. Wir sind Sachverständige, keine Prediger und keine Richter. Emotionen würden uns die Objektivität nehmen, die wir brauchen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Toten können nichts mehr erzählen. Also versuchen wir für sie zu sprechen, indem wir das herausfinden, was sie uns nicht mehr sagen können. Das ist unser Job. Das heißt nicht, dass alles, was es auf der Welt gibt, an uns abprallt, ohne dass es uns emotional berührt. So kann ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, als Arzt auf einer Kinderkrebsstation zu arbeiten, wo man täglich das Leiden der kleinen Patienten sieht und oft nicht mehr helfen kann.
    Die Schicksale der Verstorbenen, die auf meinem Obduktionstisch im »Saal« landen, sind oft furchtbar, und natürlich ist mir das auch bewusst. Dennoch ist meine Arbeit in erster Linie berufliche Routine. Die besteht im Erheben von Befunden und ihrer Dokumentation, im Sammeln und Auflisten von Fakten, die auf naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzipien beruhen und ausgewertet werden. Wir Rechtsmediziner liefern gerichtsfeste, harte Daten, das ist das Einzige, was wir für die Opfer und ihre Angehörigen tun können. Und es ist die einzig mögliche Art und Weise, unserer übergeordneten Aufgabe gerecht zu werden, die aus meiner Sicht in dem nach wie vor gültigen Diktum besteht: Mortui vivos docent  – die Toten lehren die Lebenden. Oder umgekehrt ausgedrückt: Die Lebenden lernen von den Toten.
    Wie das? Ist die
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