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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur
Autoren: Michael Tsokos
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Ausschnitt keine Naht sieht. In Berlin allerdings werden die meisten Leichen nirgendwo aufgebahrt, daher begnügen wir uns mit einem senkrechten Schnitt vom Hals bis zur Hüfte. Dann klappen wir die Hautpartien inklusive des darunterliegenden Unterhautfettgewebes auseinander, durchtrennenund entfernen die Rippen und das Brustbein, um schließlich Herz und Lunge entnehmen zu können. Beim Kopf wird die Kopfhaut aufgeschnitten und – wie beim Skalpieren – über das Gesicht des Toten gezogen, damit der Schädelknochen freiliegt. Dann sägen wir den Schädel auf und entnehmen das Gehirn.
    Der Schädel wird mit einer »Oszillationssäge« aufgesägt, ähnlich einer Kreissäge, die sich allerdings nicht dreht, sondern mit hoher Geschwindigkeit hin und her schwingt (von lat. oscillare = schwingen) und dadurch sehr viel effektiver ist als z. B. eine echte Kreissäge oder eine Stichsäge.
    Alle inneren Organe aus Kopf-, Brust- und Bauchhöhle werden auf Erkrankungen, die schon vor dem Tode bestanden, und Zeichen von Gewalteinwirkung untersucht. Dabei entnehmen wir auch Gewebe- und Blutproben, die bei uns Rechtsmedizinern »Asservate« heißen (von lat. asservare = verwahren) und entsprechend den Vorgaben der Strafprozessordnung quasi »sichergestellt« werden. Diese Gewebeteilchen oder Blutproben geben wir bei entsprechendem Verdacht in die Toxikologie, wo sie weiter untersucht werden. Die Kollegen dort überprüfen sie auf Rückstände von Medikamenten, Drogen oder anderen Giften. Die Gewebeteilchen werden auch unter dem Mikroskop geprüft und Blut oder Gewebeproben für eventuelle DNA-Analysen zurückgehalten. Alle Asservate werden, bis das jeweilige Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist, in einem speziell gesicherten Raum, der Asservatenkammer, verwahrt. Je nachdem, um welches Gewebe es sich handelt und wie es weiter untersucht werden soll, werdendie Gewebeproben entweder gekühlt, tiefgefroren, luftgetrocknet und dann steril verpackt oder in Alkohol oder Formalinlösung aufbewahrt. Wenn es nach Abschluss der Obduktion noch Fragen vonseiten der Kripo oder Staatsanwaltschaft gibt, können wir auf diese Asservate zurückgreifen, um weitere Analysen vorzunehmen, z.B. um nach bestimmten Giften zu suchen.
    Die sezierten Organe werden am Ende wieder in den Leichnam zurückgelegt, die Leiche wird von der Sektionsassistentin oder dem Sektionsassistenten zugenäht und dann erdbestattet oder eingeäschert. Das Tonband, auf dem die Beobachtungen und Befunde während der Obduktion diktiert worden sind, wird zur Ermittlungsakte gegeben, eine Sekretärin des Instituts verfasst daraus einen Bericht und fügt diesen wiederum der Ermittlungsakte bei. Danach geht die Akte an die Staatsanwaltschaft.
    Und wie lange dauert nun eine solche Obduktion?
    Wenn wir auf der Straße eine Umfrage zu dem Thema starten würden, erhielten wir wohl häufig die Antwort: »Ein paar Tage.« Auch das haben wir den Krimiautoren zu verdanken, die Leichen unbedachterweise halbe oder ganze Wochen in der Rechtsmedizin herumliegen lassen, je nachdem, wie lange der Hauptkommissar oder Detective für seine Ermittlungen braucht. Dieser steht dann bleich in der Ecke oder, wenn er hartgesotten ist, direkt neben dem Rechtsmediziner, der sich über die Aufmerksamkeit freut und neben der Leiche Reden schwingt, als halte er eine Lehrstunde ab.Das sieht dann aus, als wäre der Tote über Tage hinweg ein ständiger Begleiter des Rechtsmediziners und als würde der ihn immer wieder aufs Neue öffnen, um nach anderen Details zu fahnden.
    In Wahrheit dauert eine Obduktion im Durchschnitt zwei bis drei Stunden. Je nach Todesursache oder Komplexität des vorangegangenen Verbrechens kann eine Obduktion schneller beendet sein oder länger dauern. So sind manche Obduktionen nach anderthalb Stunden beendet, während die längste Obduktion, die ich bisher durchgeführt habe, fast 16 Stunden dauerte. Der Täter hatte hier ein achtjähriges Mädchen verschleppt, entkleidet, sexuell missbraucht und danach wieder angekleidet. Irgendwann innerhalb dieser Zeitspanne war das Mädchen getötet worden. Bevor wir mit der eigentlichen Obduktion, also der Öffnung der Körperhöhle anfangen konnten, mussten wir zunächst einmal jede Kleidungsschicht entfernen und analysieren, gemeinsam mit den Kriminaltechnikern Faser- und Gewebespuren asservieren, um auch hier den Tathergang genau rekonstruieren zu können und dabei – das ist in solchen Fällen das Wichtigste! – DNA-taugliches
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