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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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Carol oder Onkel William oder Rachel oder Jenny immer direkt vor meiner Zimmertür stehen. Man kann es Realitätsverweigerung, Verbohrtheit oder Wahnsinn nennen, aber ich muss einfach daran glauben, dass Alex kommen und mich retten wird – wie in einem der Märchen, von denen er mir auf dem Rückweg aus der Wildnis erzählt hat. Der Prinz holt die Prinzessin aus einem verschlossenen Turm, schlachtet Drachen ab und kämpft sich durch Wälder aus giftigen Dornen, nur um zu ihr zu gelangen.
    Am späten Nachmittag kommt Rachel mit einer Schüssel dampfender Suppe herein. Sie setzt sich wortlos zu mir ans Bett.
    Â»Noch mehr Aspirin?«, frage ich sie sarkastisch, als sie mir einen Löffel voll anbietet.
    Â»Jetzt, wo du geschlafen hast, geht’s dir besser, oder?«, erwidert sie.
    Â»Es würde mir besser gehen, wenn ich nicht gefesselt wäre.«
    Â»Es ist nur zu deinem Besten«, sagt sie und hält mir erneut den Löffel vor den Mund.
    Das Letzte, was ich möchte, ist, Essen von Rachel anzunehmen, aber falls Alex mich holen kommt (wenn; wenn er mich holen kommt; ich muss weiter daran glauben) , sollte ich bei Kräften sein. Außerdem, wenn Carol und Rachel denken, dass ich den Gedanken an Widerstand aufgegeben habe, lockern sie vielleicht meine Fesseln oder hören auf, vor der Zimmertür Wache zu halten, und bieten mir so die Gelegenheit zur Flucht.
    Also schlürfe ich eine große Portion Suppe, ringe mir ein Lächeln ab und sage: »Nicht schlecht.«
    Rachel strahlt mich an. »Du kannst so viel haben, wie du willst«, sagt sie. »Morgen musst du in guter Verfassung sein.«
    Du sagst es, denke ich und leere die ganze Schüssel, ohne es mir zweimal sagen zu lassen.
    Weitere Minuten: eine langsame Last, wie ein Gewicht, das mich nach unten zieht. Aber dann nimmt das Licht im Zimmer plötzlich die warme Farbe von Honig an, darauf das zitternde Gelb frischer Sahne, und dann beginnt es plötzlich ganz von den Wänden hinwegzuwirbeln wie Wasser durch einen Abfluss. Ich habe nicht ernsthaft erwartet, dass Alex vor Einbruch der Nacht hier auftauchen würde – das wäre Selbstmord –, aber trotzdem pocht der Schmerz tief in meiner Brust. Es bleibt kaum noch Zeit.
    Zum Abendessen gibt es wieder Suppe, gekrönt von durchweichten Stücken Brot. Diesmal bringt mir Carol das Essen, während Rachel draußen wartet. Carol bindet kurz meine Hände los, nachdem ich sie gebeten habe, aufs Klo gehen zu dürfen, aber sie besteht darauf, mich zu begleiten, und bleibt neben mir stehen, während ich pinkele, was mehr als demütigend ist. Meine Beine sind wacklig und im Stehen nimmt der Schmerz in meinem Kopf zu. An meinen Handgelenken sind tiefe Rillen von der Nylonschnur und meine Arme hängen wie zwei tote Gewichte von meinen Schultern. Als Carol mich wieder festbinden will, überlege ich kurz, ob ich mich wehren soll – obwohl sie größer ist als ich, bin ich auf jeden Fall stärker –, aber dann entscheide ich mich dagegen. Das Haus ist voller Leute, darunter mein Onkel, und soweit ich weiß, sind auch immer noch ein paar Aufseher da unten. Sie hätten mich in Minutenschnelle festgenommen und ruhiggestellt, und noch eine Betäubung kann ich mir nicht leisten. Heute Nacht muss ich wach und aufmerksam sein. Wenn Alex nicht kommt, muss ich mir selbst einen Plan ausdenken.
    Eins ist sicher: Ich werde den Eingriff morgen nicht über mich ergehen lassen. Lieber sterbe ich.
    Ich konzentriere mich darauf, meine Muskeln so fest anzuspannen wie möglich, während Carol mich festbindet. Als ich mich wieder entspanne, habe ich ein kleines bisschen Spielraum, gerade mal einen Zentimeter. Vielleicht genug, um mich zu befreien. Und noch eine gute Nachricht: Gegen Ende des Tages sind alle bei der Bewachung meines Zimmers ein wenig laxer geworden, genau, wie ich gehofft hatte. Rachel verlässt ihren Platz für fünf Minuten, um aufs Klo zu gehen; Jenny verbringt die meiste Zeit damit, Grace einen Vortrag über die Regeln irgendeines Spiels zu halten, das sie erfunden hat; Carol verlässt ihren Posten eine halbe Stunde lang zum Geschirrspülen. Nach dem Abendessen übernimmt Onkel William. Darüber bin ich froh. Er hat ein kleines tragbares Radio dabei. Ich hoffe, dass er einnicken wird, wie sonst auch nach dem Essen.
    Und dann schaffe ich es vielleicht – nur vielleicht –, hier
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