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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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wird.
    Irgendwo in der Stadt läuft ein Motor, ein entferntes, dumpfes Brummen wie von einem schnaufenden Tier. Bald wird die leuchtende Morgenröte sich durch all diese Dunkelheit drängen, alle Umrisse werden wieder zum Vorschein kommen, die Menschen werden aufwachen und gähnen und Kaffee kochen und sich für die Arbeit fertig machen, alles wie immer. Das Leben wird weitergehen. Etwas schmerzt in meinem Innersten, etwas Urtümliches, Tiefes, das stärker ist als Worte: der Faden, der jeden von uns mit dem Ursprung des Lebens verbindet, dieses urtümliche Ding, das sich aufrollt, widersetzt und verzweifelt um Halt kämpft, um eine Möglichkeit, hierzubleiben, zu atmen, weiterzumachen . Aber ich schiebe es mit aller Macht beiseite; ich zwinge es dazu, sich wieder einzurollen, loszulassen.
    Lieber sterbe ich auf meine Art, als zu leben wie ihr.
    Das Motorengeräusch wird lauter, nähert sich. Und jetzt sehe ich ein einsames Motorrad – einen dunklen, schwarzen Fleck – die Straße entlangkommen. Einen Augenblick halte ich fasziniert inne. Ich habe bisher erst zweimal ein fahrendes Motorrad gesehen, und selbst in meiner aussichtslosen Situation finde ich es wunderschön, wie es sich die Straße heraufschlängelt und dabei glitzert, durch die Dunkelheit schneidet wie der glatte schwarze Kopf eines Otters durchs Wasser. Und auch den Fahrer, nur ein fließender Umriss, der sich vorbeugt, so dass ich nur seine Haare sehe, während er immer näher kommt und die Einzelheiten immer deutlicher werden.
    Die Haare: in der Farbe von Blättern im Herbst, die brennen, brennen.
    Alex.
    Ich kann nicht anders: Mir entfährt ein leiser Schrei.
    Vor der Schlafzimmertür ertönt ein dumpfes Geräusch, als würde etwas gegen die Wand stoßen. Ich höre, wie Onkel William murmelt: »Scheiße.«
    Alex biegt in den schmalen Durchgang ein – eigentlich nur ein Grasstreifen mit einem einzelnen kümmerlichen Baum und hüfthohem Maschendrahtzaun –, der unser Grundstück von den Nachbarn trennt. Ich winke ihm heftig zu. Er stellt den Motor ab und hebt den Kopf. Es ist immer noch sehr dunkel und ich bin nicht sicher, ob er mich sehen kann.
    Ich riskiere es, leise seinen Namen runter in den Garten zu rufen. »Alex!«
    Er hebt den Kopf, ein Grinsen erscheint auf seinem Gesicht und er breitet die Arme aus, als wollte er sagen: Du hast doch gewusst, dass ich kommen würde, oder? Es erinnert mich daran, wie er aussah, als ich ihn auf der Tribüne in den Labors zum ersten Mal gesehen habe, funkelnd und blitzend, wie ein Stern, der nur für mich durch die Dunkelheit blinkt.
    Und in diesem Augenblick bin ich so von Liebe angefüllt, dass es ist, als verwandelte sich mein Körper in einen glühenden Lichtstrahl, der ganz weit nach oben schießt, über das Zimmer und die Wände und die Stadt hinaus; als würde alles hinter uns zurückfallen und Alex und ich wären alleine in der Luft, vollkommen frei.
    Dann fliegt die Tür zu meinem Zimmer auf und Onkel William fängt an zu brüllen.
    Plötzlich ist das Haus voller Lärm und Licht, Schritte und Schreie. Onkel William steht einfach nur in der Tür und ruft nach Carol und es ist wie in einem dieser Horrorfilme, wenn ein schlafendes Ungeheuer geweckt wird, nur dass jetzt das Haus das Ungeheuer ist. Schritte trampeln die Treppe herauf – die Aufseher, denke ich – und am Ende des Flurs stürzt Carol aus dem Schlafzimmer, das Nachthemd flattert hinter ihr her wie ein Umhang, ihr Mund ist zu einem langen, unverständlichen Schrei verzogen.
    Ich drücke, so fest ich kann, gegen das Fliegengitter, aber es klemmt. Unter mir schreit auch Alex etwas, aber ich kann es über dem Lärm des Motorrads, das wieder anspringt, nicht verstehen.
    Â»Halt sie auf!«, ruft Carol und da kommt Leben in Onkel William, er erwacht aus seiner Starre und bewegt sich auf mich zu. Schmerz brennt in meiner Schulter, als ich erneut gegen das Fliegengitter drücke, spüre, wie es sich einen Moment nach außen dehnt und doch standhält. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Jeden Augenblick wird er mich packen und alles wird vorbei sein.
    Dann ruft Gracie: »Wartet!«
    Alle erstarren nur eine Sekunde lang. Es ist das erste und einzige Mal, dass Gracie je etwas zu ihnen gesagt hat. William stolpert über seine eigenen Füße und stiert seine Enkelin mit offenem Mund an. Carol erstarrt
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