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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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Zungen, die am immer heller werdenden Himmel lecken. Einen Augenblick stößt der Zaun ein hohes, schrilles Jaulen aus, dann verstummt er wieder. Zweifellos hat es einen Kurzschluss gegeben.
    Das ist meine Chance zu klettern, genau wie Alex gesagt hat. Irgendwie finde ich die Kraft, mich auf allen vieren zum Zaun zu schleppen. Ich höre Geschrei hinter mir, aber alles klingt weit entfernt, wie Geräusche unter Wasser. Zentimeter für Zentimeter ziehe ich mich am Zaun hoch. Ich klettere, so schnell ich kann, aber es kommt mir unendlich langsam vor. Alex muss hinter mir sein, denn ich höre ihn rufen: »Los, Lena! Los!« Ich konzentriere mich auf seine Stimme, das Einzige, was mich dazu bringt, weiterzuklettern. Irgendwie erreiche ich die Oberkante des Zauns und steige über die Schleifen aus Stacheldraht, wie beim letzten Mal, und dann kippe ich auf die andere Seite und lasse mich über fünf Meter zu Boden fallen, wo ich mit einem harten Schlag auf dem Gras aufkomme, halb bewusstlos jetzt und unfähig, noch mehr Schmerz zu empfinden. Nur noch ein paar Schritte, dann werde ich von der Wildnis aufgesogen; dann bin ich hinter ihrem undurchdringlichen Schild aus ineinander verwobenen Bäumen, Pflanzen und Schatten verschwunden. Ich warte darauf, dass Alex neben mir aufkommt.
    Aber das tut er nicht.
    Da tue ich das, was ich geschworen habe, nicht zu tun. Plötzlich ist meine ganze Kraft wieder da, durch die Panik geweckt. Ich rappele mich auf, als der Zaun erneut zu summen beginnt.
    Und ich blicke zurück.
    Alex steht immer noch auf der anderen Seite des Zauns hinter einer flimmernden Wand aus Rauch und Feuer. Er hat sich nicht einen Zentimeter vorwärtsbewegt, seit wir vom Motorrad gesprungen sind, hat es noch nicht mal versucht.
    Eigenartigerweise muss ich in diesem Moment daran zurückdenken, was ich vor all diesen Wochen bei meiner ersten Evaluierung gesagt habe, als man mich nach Romeo und Julia fragte und mir nichts anderes einfiel als schön . Ich hatte es erklären wollen; ich hatte etwas über Opfer sagen wollen.
    Alex’ T-Shirt ist rot und einen Moment denke ich, es läge am Licht, aber dann wird mir klar, dass es durch und durch blutgetränkt ist. Blut sickert über seine Brust, wie die Farbe über den Himmel sickert, wenn ein neuer Tag beginnt. Hinter ihm ist diese Insektenarmee aus Männern, die alle gleichzeitig mit gezückten Waffen auf ihn zurennen. Auch die Wachen kommen von beiden Seiten, als wollten sie ihn genau in der Mitte auseinanderreißen. Der Hubschrauber hält ihn mit seinem Scheinwerfer fest. Er steht weiß, still und unbeweglich in seinem Strahl und ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben etwas Schöneres gesehen als ihn.
    Er sieht mich durch den Rauch, durch die Maschen des Zauns hindurch an. Er wendet den Blick nicht von mir ab. Seine Haare sind eine Krone aus Blättern, aus Dornen, aus Flammen. Seine Augen glühen vor Licht, mehr Licht als alle Lichter in jeder Stadt der ganzen Welt, mehr Licht, als wir je in zehn Billionen Jahren erfinden könnten.
    Und dann macht er den Mund auf und sein Mund bildet das letzte Wort, das er je zu mir sagt.
    Das Wort ist: Lauf.
    Anschließend fallen die Insektenmänner über ihn her. Er wird von all ihren zuschnappenden, verheerenden Armen und Mündern angegriffen wie ein Tier, auf das es die Geier abgesehen haben, von all ihrer Dunkelheit eingehüllt.
    Ich weiß nicht, wie lange ich laufe. Stunden vielleicht oder Tage.
    Alex hat gesagt, ich solle laufen. Also laufe ich.
    Ihr müsst das verstehen. Ich bin niemand Besonderes. Ich bin einfach nur ein Mädchen. Ich bin eins siebenundfünfzig groß und in jeder Hinsicht Mittelmaß.
    Aber ich habe ein Geheimnis. Sie können Mauern bis zum Himmel bauen und ich werde doch einen Weg finden, darüber hinwegzufliegen. Sie können mich mit hunderttausend Armen festhalten und ich werde doch einen Weg finden, mich zu wehren. Und es gibt viele von uns da draußen, mehr als ihr denkt. Menschen, die sich weigern, den Glauben aufzugeben. Menschen, die sich weigern, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Menschen, die in einer Welt ohne Mauern leben und lieben. Menschen, die gegen Gleichgültigkeit und Zurückweisung anlieben, aller Vernunft zum Trotz und ohne Angst.
    Ich liebe dich. Vergiss das nicht. Das können sie uns nicht nehmen.

Dank
    An meine wunderbar geduldige und aufmerksame Lektorin Rosemary
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