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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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Feuchtes sickert meinen Unterarm entlang, und als ich den Kopf nach hinten drehe, sehe ich einen dicken, dunklen Strich Blut, der sich über meine Haut zieht wie eine schreckliche schwarze Schlange.
    Die Straßen draußen sind so ruhig wie immer und in diesem Moment weiß ich, dass es hoffnungslos ist: Allein kann ich nicht entkommen. Morgen werde ich aufwachen und meine Tante, Rachel und die Aufseher werden mich in die Stadt bringen und die einzigen Fluchtmöglichkeiten, die ich habe, führen ins Meer oder vom Labordach.
    Ich denke an Alex’ Augen, die die Farbe flüssigen Honigs haben, und an seine zarte Berührung und daran, unter einem Baldachin aus Sternen zu schlafen, die sich über uns ausdehnen, als wären sie extra für uns dort platziert worden. Jetzt, nach so vielen Jahren, verstehe ich, was die »Kälte« war und wo sie herkam – dieses Gefühl, dass alles verloren, wertlos und sinnlos ist. Schließlich legt sich die Verzweiflung wie ein dunkler Schleier über mein Bewusstsein und, Wunder über Wunder, ich schlafe ein.
    Etwas später wache ich in tiefpurpurner Dunkelheit auf. Jemand ist im Zimmer und lockert die Fesseln an meinen Handgelenken. Mein Herz macht einen Satz und ich denke: Alex , aber dann blicke ich auf und sehe Gracie, die am Kopfende meines Bettes sitzt und sich an der Schnur zu schaffen macht, mit der ich an den Bettpfosten festgebunden bin. Sie zieht und entwirrt und beugt sich gelegentlich vor, um mit den Zähnen am Nylon zu zerren. Wie ein leises, emsiges Tier, das sich durch einen Zaun beißt.
    Und dann ist die Schnur durchtrennt und ich bin frei. Der Schmerz in meinen Schultern ist eine Qual: Meine Arme werden von tausend Nadelstichen durchbohrt. Aber trotzdem könnte ich vor Freude springen und schreien. So muss sich meine Mutter gefühlt haben, als sie den ersten Sonnenstrahl durch den Spalt in ihrer steinernen Gefängnismauer dringen sah.
    Ich setze mich auf und reibe meine Handgelenke. Gracie kauert sich an das Kopfteil und beobachtet mich, und ich beuge mich vor und umarme sie fest. Sie riecht nach Apfelseife und ein bisschen nach Schweiß. Ihre Haut ist ganz heiß und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie nervös sie gewesen sein muss, als sie sich in mein Zimmer gestohlen hat. Ich bin überrascht, wie dünn und zerbrechlich sie sich anfühlt, sie zittert ganz leicht in meinen Armen.
    Aber sie ist nicht zerbrechlich – ganz und gar nicht. Gracie ist stark, wird mir bewusst, vielleicht sogar stärker als wir alle. Sie führt schon lange ihren eigenen Widerstandskampf, und die Tatsache, dass sie eine geborene Widerstandskämpferin ist, lässt mich in ihre Haare lächeln. Sie wird klarkommen. Sie wird bestens klarkommen.
    Ich löse mich nur ein bisschen von ihr, damit ich ihr ins Ohr flüstern kann: »Ist Onkel William noch da draußen?«
    Gracie nickt und legt dann beide Hände seitlich an ihren Kopf, um zu zeigen, dass William schläft.
    Ich beuge mich erneut vor. »Sind Aufseher im Haus?«
    Gracie nickt wieder und hält zwei Finger hoch, und mir wird ganz flau im Magen. Nicht nur ein Aufseher – gleich zwei.
    Ich stehe auf und probiere meine Beine aus, in denen ich Krämpfe habe, nachdem ich sie fast zwei Tage lang nicht bewegen konnte. Ich gehe auf Zehenspitzen zum Fenster und ziehe so leise wie möglich die Jalousie hoch. Mir ist bewusst, dass Onkel William nur drei Meter von mir entfernt schlummert. Der Himmel draußen ist auberginefarben, und die Straße ist mit samtigen Schatten überzogen. Alles ist absolut ruhig, vollkommen still, aber am Horizont kann man ein ganz leichtes Erröten wahrnehmen, es wird allmählich hell. Die Morgendämmerung ist nicht mehr weit.
    Ich schiebe vorsichtig das Fenster auf, weil ich plötzlich das Verlangen habe, das Meer zu riechen. Da ist er, der Geruch nach Salz, Gischt und Dunst, ein Geruch, der sich in meinem Kopf mit der Vorstellung von ständiger Bewegung vermischt, einer ewigen Tide. Da werde ich unglaublich traurig. Es besteht keine Möglichkeit, Alex mitten in dieser riesigen, ausgedehnten schlafenden Stadt zu finden, und keine Möglichkeit, dass ich es allein bis zur Grenze schaffe. Mir bleibt nur der Versuch, zu den Klippen runterzukommen, ans Meer, und ins Wasser zu gehen, bis es über meinem Kopf zusammenschlägt. Ich frage mich, ob es wehtun wird. Ich frage mich, ob Alex an mich denken
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