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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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ihr Hals unnatürlich verrenkt, aber so, wie ihre Wange auf dem Asphalt ruhte, hätte man meinen können, sie habe sich hingelegt, um ein Nickerchen zu halten. Es war überraschend wenig Blut zu sehen – nur ein kleines dunkles Rinnsal in ihren Mundwinkeln.
    Noch fünfundneunzig Tage, dann bin ich immun. Natürlich bin ich aufgeregt. Ich frage mich, ob der Eingriff wohl wehtun wird. Ich will es hinter mich bringen. Es ist nicht leicht, geduldig zu sein. Es ist nicht leicht, keine Angst zu haben, solange ich noch nicht geheilt bin, obwohl ich bisher nicht von der Deliria befallen worden bin.
    Trotzdem mache ich mir Sorgen. Es heißt, die Liebe habe die Leute früher in den Wahnsinn getrieben. Das ist schon schlimm genug. Das Buch Psst berichtet aber auch von Menschen, die gestorben sind, weil sie die Liebe verloren oder nie gefunden haben. Und das macht mir am meisten Angst.
    Die gefährlichste aller Krankheiten. Sie endet auf jeden Fall tödlich, ob man sie hat oder nicht.

zwei
    Wir müssen ständig auf der Hut vor der Krankheit sein;
    die Gesundheit unserer Nation, unseres Volkes, unserer Familien und
    unseres Geistes hängt von ständiger Wachsamkeit ab.
    Â»Wesentliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz«,
Das Buch Psst
    D er Geruch nach Orangen erinnert mich immer an Beerdigungen. Am Morgen meiner Evaluierung wache ich von genau diesem Geruch auf. Ich werfe einen Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch steht. Es ist sechs Uhr.
    Das Licht ist noch grau, die Sonne dringt nur langsam in das Zimmer, das ich mir mit den beiden Töchtern meiner Cousine teile. Grace, die jüngere, kauert bereits angezogen auf ihrem Bett und beobachtet mich. Sie hält eine ganze Orange in der Hand und versucht mit ihren kleinen Kinderzähnen hineinzubeißen wie in einen Apfel. Mein Magen zieht sich zusammen und ich schließe die Augen, um die Erinnerung an das warme, kratzige Kleid zu vertreiben, das ich anziehen musste, als meine Mutter gestorben war; die Erinnerung an die murmelnden Stimmen, eine große, raue Hand, die mir ein Stück Orange nach dem anderen reichte, damit ich daran sog und still war. Während der Beerdigung aß ich vier Orangen, Stück für Stück, und als nur noch ein Haufen Schalen auf meinem Schoß übrig war, begann ich an ihnen zu saugen. Der bittere Geschmack half mir, die Tränen zurückzuhalten.
    Ich schlage die Augen auf und Grace beugt sich vor, die Orange in der ausgestreckten Handfläche.
    Â»Nein, Gracie.« Ich schiebe die Decke weg und stehe auf. Mein Magen ballt sich zusammen wie eine Faust und entspannt sich wieder. »Und die Schale kann man übrigens nicht mitessen.«
    Sie blinzelt weiterhin mit ihren großen grauen Augen zu mir auf, ohne etwas zu sagen. Ich seufze und setze mich neben sie. »So«, sage ich und zeige ihr, wie sie die Orange mit dem Fingernagel schälen kann. Ich pelle leuchtend orangefarbene Kringel ab und lasse sie in ihren Schoß fallen, wobei ich die ganze Zeit die Luft anhalte, um den Geruch nicht einzuatmen. Grace sieht mir schweigend zu. Als ich fertig bin, hält sie die geschälte Orange in beiden Händen, als wäre es eine Glaskugel und sie hätte Angst, sie zu zerbrechen.
    Ich gebe ihr einen Stups. »Los, jetzt kannst du sie essen.« Sie starrt sie bloß an und ich seufze erneut und fange an, die Orange nach und nach für sie in Stücke zu teilen. Dabei flüstere ich so freundlich wie möglich: »Weißt du, die anderen wären netter zu dir, wenn du gelegentlich etwas sagen würdest.«
    Sie antwortet nicht. Nicht, dass ich wirklich damit gerechnet hätte. Tante Carol hat Grace in den sechs Jahren und drei Monaten ihres Lebens kein Wort sagen hören – nicht eine einzige Silbe. Carol glaubt, mit Gracies Gehirn sei etwas nicht in Ordnung, aber bisher haben die Ärzte nichts gefunden. »Sie ist strohdoof«, hat Carol erst neulich ungerührt festgestellt, als sie Grace dabei beobachtete, wie sie einen bunten Block in den Händen drehte wie etwasWunderschönes und Geheimnisvolles, als erwartete sie, dass er sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln würde.
    Ich stehe auf und gehe zum Fenster, weg von Grace und ihren großen, starrenden Augen und ihren dünnen, schnellen Fingern. Sie tut mir leid.
    Marcia, Gracies Mutter, ist tot. Sie hatte ursprünglich immer gesagt, sie wolle keine Kinder. Das ist eine der Kehrseiten des
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