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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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wird.
    Augenblicklich springe ich in die Ecke und zwänge mich hinter den OP -Tisch, wo ich vor den panischen Tieren geschützt bin. Ich strecke nur ein kleines bisschen den Kopf hervor, damit ich sehen kann, was passiert. Die Gutachter klettern jetzt auf ihren Tisch, während sich um sie herum Wände aus braunen und gefleckten Kuhflanken schließen. Gutachterin Nummer eins schreit aus vollem Hals, und Brillengesicht brüllt: »Ganz ruhig, ganz ruhig!«, obwohl er sich an sie klammert, als wäre sie ein Rettungsfloß und er kurz vor dem Ertrinken.
    Einigen Kühen hängen irgendwelche Perücken krumm und schief auf dem Kopf und andere sind nachlässig in dieselben Kittel gewickelt, wie ich einen trage. Einen Moment lang bin ich mir sicher, dass ich träume. Vielleicht war dieser ganze Tag nur ein Traum und gleich wache ich auf und stelle fest, dass ich immer noch zu Hause im Bett liege, am Morgen meiner Evaluierung. Aber dann bemerke ich den Slogan auf den Flanken der Kühe: NICHT HEILUNG . TOD . Die Wörter sind unsauber genau über die ordentlich eingebrannten Nummern geschrieben, die diese Kühe als Schlachtvieh identifizieren.
    Ein Kribbeln tänzelt meine Wirbelsäule hinauf und die Puzzleteile ergeben langsam ein vollständiges Bild. Alle paar Jahre dringen die Invaliden – Leute, die in der Wildnis leben, dem unkontrollierten Land, das zwischen den anerkannten Städten und Orten liegt – nach Portland ein und organisieren irgendeine Art von Protest. Einmal haben sie nachts rote Totenköpfe auf die Häuser aller bekannten Wissenschaftler gemalt. Ein andermal ist es ihnen gelungen, in die Polizeizentrale einzubrechen, von der aus alle Patrouillen und Wachschichten Portlands koordiniert werden, und das komplette Mobiliar aufs Dach zu räumen, sogar die Kaffeeautomaten. Das war eigentlich ziemlich witzig – und ziemlich erstaunlich, denn man sollte doch annehmen, die Zentrale wäre das bestgesicherte Gebäude in ganz Portland. Die Leute in der Wildnis betrachten Liebe nicht als Krankheit und sie glauben nicht an das Heilmittel. Sie halten es für grausam. Daher der Slogan.
    Jetzt begreife ich: Die Kühe sollen uns darstellen, diejenigen, die begutachtet werden. Als wären wir alle ein Haufen Herdentiere.
    Die Kühe haben sich ein bisschen beruhigt. Sie stürmen nicht mehr umher, sondern schieben sich im Labor hin und her. Gutachterin Nummer eins schlägt mit einem Klemmbrett auf die Kühe ein, die muhend gegen den Tisch stoßen und an den Blättern knabbern, die darauf verteilt sind – die Notizen der Gutachter, wie mir bewusst wird, als eine Kuh sich ein Blatt Papier schnappt und es dabei durchreißt. Gott sei Dank. Vielleicht fressen die Kühe alle Notizen auf und dann können die Gutachter nicht mehr nachvollziehen, dass ich die ganze Sache hier total vermasselt habe. In meiner Deckung hinter dem OP -Tisch – in Sicherheit vor den scharfkantigen, stampfenden Hufen – muss ich zugeben, dass die ganze Sache eigentlich zum Brüllen ist.
    Da höre ich es. Irgendwie kann ich über das ganze Schnauben und Trampeln und Geschrei hinweg über mir das Lachen hören – leise, kurz und melodisch, als schlüge jemand ein paar Töne auf einem Klavier an.
    Die Tribüne. Ein Junge steht auf der Tribüne und beobachtet das Chaos hier unten. Und er lacht .
    Als ich aufsehe, ruht sein Blick auf meinem Gesicht. Mein Atem strömt aus meinem Körper und alles erstarrt, als würde ich ihn durch die Linse meiner Kamera ansehen, ganz nah herangezoomt, und die Welt hielte während dieser winzigen Zeitspanne zwischen dem Öffnen und Schließen der Blende kurz inne.
    Er hat goldbraunes Haar, wie Blätter im Herbst, wenn sie sich gerade verfärben, und helle, bernsteinfarbene Augen. Ich weiß augenblicklich, dass er einer derjenigen ist, die hierfür verantwortlich sind. Ich weiß, dass er in der Wildnis leben muss; ich weiß, dass er ein Invalide ist. Mein Magen verkrampft sich vor Angst und ich klappe den Mund auf, um etwas zu rufen – ich weiß nicht genau, was –, aber genau in diesem Moment schüttelt er kaum wahrnehmbar den Kopf und ich bringe keinen Ton heraus. Dann tut er das absolut, völlig Undenkbare.
    Er zwinkert mir zu.
    Schließlich geht die Alarmanlage los. Sie ist so laut, dass ich mir mit beiden Händen die Ohren zuhalten muss. Ich wende den Blick ab, um
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