Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
Lehrstück, eine Warnung vor den Gefahren der alten Welt, aus der Zeit, bevor es das Heilmittel gab. Aber meine Kehle ist wie zugeschwollen. Da ist kein Platz, um die Worte hindurchzulassen. Sie stecken fest wie die Kletten, die an unseren Kleidern kleben bleiben, wenn wir bei den Farmen vorbeilaufen. Und in diesem Augenblick kommt es mir vor, als könnte ich das tiefe Tosen des Meeres hören, sein entferntes, durchdringendes Murmeln. Ich kann mir vorstellen, wie sich sein Gewicht über meiner Mutter schließt, Wasser schwer wie Stein. Und heraus kommt: »Es ist schön.«
    Ruckartig heben sich alle Köpfe, um mich anzusehen, wie Marionetten, die an denselben Fäden hängen.
    Â»Schön?« Gutachterin Nummer eins rümpft die Nase. Sirrende, frostige Anspannung liegt in der Luft und mir wird klar, dass ich einen Riesenfehler gemacht habe.
    Der Gutachter mit der Brille beugt sich vor. »Das ist ein interessanter Begriff, den du da verwendest. Sehr interessant.« Als er diesmal seine Zähne zeigt, erinnern sie mich an die gebogenen weißen Fänge eines Hundes. »Kann es vielleicht sein, dass du Leiden schön findest? Dass du Gewalt genießt?«
    Â»Nein. Nein, das ist es nicht.« Ich versuche klar zu denken, aber mein Kopf ist voll vom wortlosen Rauschen des Meeres. Es wird von Minute zu Minute lauter. Und jetzt kommt es mir vor, als könnte ich ganz leise auch Schreie hören – als würde mich das Schreien meiner Mutter über ein Jahrzehnt hinweg erreichen. »Ich meine nur … Es hat etwas so Trauriges …« Ich kämpfe, rudere, habe jetzt das Gefühl, in dem weißen Licht und dem Tosen zu ertrinken. Opfer. Ich will etwas über Opfer sagen, aber ich kriege das Wort nicht raus.
    Â»Machen wir weiter.« Gutachterin Nummer eins, die so nett klang, als sie mir das Wasser anbot, hat jeden Anschein von Freundlichkeit verloren. Jetzt ist sie ganz geschäftsmäßig. »Etwas Einfaches. Was ist deine Lieblingsfarbe?«
    Ein Teil meines Gehirns – der vernünftige, wohlerzogene Teil, mein logisches Ich – schreit: Blau! Sag Blau! Aber dieses andere, ältere Etwas in mir reitet auf den Wellen aus Klang und steigt mit dem zunehmenden Lärm empor: »Grau«, platze ich heraus.
    Â»Grau?«, wiederholt Gutachter Nummer vier voller Entrüstung.
    Mein Herz rutscht mir in einer endlosen Abwärtsbewegung bis in die Hose. Ich weiß, ich hab’s verbockt, ich gehe baden, kann geradezu sehen, wie meine Werte sinken. Aber es ist zu spät. Ich bin erledigt – das Rauschen in meinen Ohren, das immer lauter wird, ein wildes Getrampel macht mir das Denken unmöglich. Ich schicke schnell eine gestammelte Erklärung hinterher. »Nicht wirklich Grau. Kurz bevor die Sonne aufgeht, gibt es einen Moment, in dem der ganze Himmel diese blasse Unfarbe annimmt – nicht direkt Grau, aber so etwas Ähnliches, eher eine Art Weiß, und das hat mir schon immer gefallen, weil es mich daran erinnert, wie es ist, wenn man darauf wartet, dass etwas Schönes passiert.«
    Aber sie hören mir nicht mehr zu. Alle starren mit schräg gelegten Köpfen und irritierten Mienen an mir vorbei, als versuchten sie vertraute Wörter in einer Fremdsprache auszumachen. Und dann wird das Tosen und Schreien plötzlich lauter und mir wird bewusst, dass ich mir das gar nicht nur eingebildet habe. Da schreien wirklich Leute und man hört ein polterndes, grollendes, trommelndes Geräusch, als würden sich tausend Füße gleichzeitig bewegen. Und da ist noch ein drittes, das die beiden anderen Geräusche untermalt: ein wortloses, unmenschliches Brüllen.
    In meiner Verwirrung kommt mir alles zusammenhanglos vor, wie im Traum. Gutachterin Nummer eins erhebt sich halb von ihrem Stuhl und sagt: »Was zum Teufel …?«
    Im selben Augenblick sagt Brillengesicht: »Bleiben Sie hier, Helen. Ich seh mal nach, was los ist.«
    Aber in diesem Moment geht plötzlich die blaue Tür auf und undeutlich erkenne ich eine Herde Kühe – echte, lebendige, schwitzende, muhende Kühe –, die ins Labor gedonnert kommt. Und ob das Getrampel war, denke ich und bin einen seltsamen, isolierten Moment stolz darauf, das Geräusch richtig identifiziert zu haben.
    Dann wird mir bewusst, dass eine Gruppe ausgesprochen schwerer und ausgesprochen verängstigter Herdentiere auf mich zustürmt und mich gleich niedertrampeln
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher