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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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Letztes Jahr dagegen stellte Corey Winde den unübertroffenen Rekord für die längste Evaluierung auf – dreieinhalb Stunden – und bekam trotzdem nur drei Punkte. Es gibt natürlich ein System hinter den Evaluierungen, aber trotzdem haben sie bis zu einem gewissen Grad auch etwas Zufälliges an sich. Manchmal macht es den Eindruck, als würden sie den Prozess absichtlich so einschüchternd und verwirrend wie möglich gestalten.
    Ich stelle mir plötzlich vor, wie ich diese sauberen, sterilen Flure entlangrenne und alle Türen eintrete. Dann bekomme ich augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Gerade jetzt zu zweifeln ist mehr als unpassend und in Gedanken verfluche ich Hana. Sie ist schuld, weil sie mir da draußen diese Sachen gesagt hat. Man kann nicht glücklich sein, ohne manchmal auch unglücklich zu sein. Eine beschränkte Wahl. Wir dürfen aus Leuten wählen, die für uns ausgewählt wurden.
    Ich bin froh, dass jemand anders die Wahl für uns trifft. Ich bin froh, dass ich nicht selbst wählen muss – aber in erster Linie bin ich froh, dass ich nicht jemand anderen dazu bringen muss, mich auszuwählen. Für Hana wäre es natürlich kein Problem, wenn die Dinge immer noch so wären wie in den alten Zeiten. Hana mit ihrem goldenen Haar, den hellen grauen Augen und perfekten Zähnen, ihrem Lachen, das jeden im Umkreis von drei Kilometern dazu bringt, sich nach ihr umzudrehen und mitzulachen. Selbst wenn ihr etwas misslingt, sieht Hana dabei gut aus; man möchte die Hand ausstrecken, um ihr zu helfen, oder ihre Bücher aufheben. Wenn ich über meine Füße stolpere oder mir Kaffee über das T-Shirt kippe, schauen die Leute weg. Man kann geradezu sehen, wie sie denken: Wie ungeschickt. Und immer, wenn ich auf Fremde treffe, wird mein Verstand ganz benebelt, klamm und grau wie Straßen im Tauwetter, nachdem es stark geschneit hat – ganz anders als Hana, die immer genau weiß, was sie sagen soll.
    Kein Junge bei Verstand würde mich je auswählen, solange es Menschen wie Hana auf der Welt gibt: Es wäre, wie einen muffigen Keks zu nehmen, obwohl man eigentlich eine große Schüssel Eis mit Sahne, Kirschen und Schokostreuseln möchte. Deshalb werde ich mich über meine ordentlich ausgedruckte Seite mit »genehmigten Treffern« freuen. Wenigstens bekomme ich so überhaupt jemanden ab. Es spielt keine Rolle, wenn mich niemand für hübsch hält (obwohl ich mir manchmal, nur einen Augenblick lang, wünsche, jemand täte das). Es würde noch nicht mal eine Rolle spielen, wenn ich nur ein Auge hätte.
    Â»Hier rein.« Die Krankenschwester bleibt schließlich vor einer Tür stehen, die genauso aussieht wie alle anderen. »Du kannst deine Kleider und persönlichen Gegenstände im Vorraum ablegen. Bitte zieh den Kittel, der dort bereithängt, mit der Öffnung nach hinten an. Du kannst dir gerne noch einen Moment Zeit lassen, einen Schluck Wasser trinken, meditieren.«
    Ich stelle mir Hunderte und Aberhunderte Mädchen vor, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzen, die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Knien, und Omm singen, und muss erneut den heftigen Drang zu lachen unterdrücken.
    Â»Aber bitte vergiss nicht: Je länger du für die Vorbereitungen brauchst, desto weniger Zeit haben die Gutachter, dich kennenzulernen.«
    Sie lächelt angespannt. Alles an ihr ist angespannt: ihre Haut, ihre Augen, ihr Laborkittel. Sie sieht mich direkt an, aber ich habe den Eindruck, dass sie mich gar nicht richtig wahrnimmt, dass sie in Gedanken bereits den Weg zum Wartezimmer zurückklappert, bereit, das nächste Mädchen den nächsten Flur entlangzuführen und ihr den gleichen Sermon zu halten. Ich fühle mich sehr einsam, umgeben von diesen dicken Wänden, die jedes Geräusch schlucken, abgeschirmt von der Sonne, dem Wind und der Hitze, alles so perfekt und unnatürlich.
    Â»Wenn du fertig bist, geh weiter durch die blaue Tür. Die Gutachter erwarten dich im Labor.«
    Nachdem die Schwester davongestöckelt ist, betrete ich den Vorraum, der klein und genauso hell ist wie der Flur. Er sieht aus wie ein normales Untersuchungszimmer beim Arzt. In der Ecke steht ein riesiger medizinischer Apparat, der regelmäßig piept, daneben eine mit Papier bedeckte Untersuchungsliege. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Ich ziehe mich aus und fröstele. Die
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