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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Autoren: Javier Marias
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Markisen dem Schauspiel zusahen, obwohl Custardoy jetzt keinen Hut und kaum noch einen Schnurrbart trug, aber ich hatte beides an ihm gesehen, wie auch die Spuren seiner Mißhandlung. Das ist das Schlimme an eingeflößten Giften, mögen sie durch die Augen oder durch die Ohren eindringen, sie lassen sich unmöglich entfernen, sie setzen sich fest, und es gibt kein Mittel dagegen, und sie kehren wieder und mischen sich mit irgend etwas oder irgend jemandem und infizieren, und sie sagen bei jeder Gelegenheit, sie wiederholen, insistieren: ›Es möge auf deiner Seele lasten.‹
    Auch ich starrte ihn ein paar Sekunden lang an, bevor ich mich umdrehte und meinen Weg fortsetzte. Ich weiß nicht, ob ebenfalls haßerfüllt, aber es kann sein, es ist sehr gut möglich, vor allem, als ich ihn etwas tun sah, das mich beunruhigte und mir gar nicht gefiel: Mit der rechten, mit der unbedeckten und gesunden Hand, derjenigen, mit der er malte, zog er aus der Hosentasche eine Taschenuhr und blickte mit merkwürdiger Bedächtigkeit darauf. Erst dachte ich, es handle sich hier um eine weitere originelle Marotte, einen neuen Tick; er hatte schon auf den Pferdeschwanz verzichtet, irgendwie mußte er unterstreichen, daß er ein Künstlerischer war, wie meine Schwester ihn genannt hatte, zu einem Zeitpunkt, als ich ihn noch nicht gesehen hatte; und im 21 . Jahrhundert eine solche Uhr zu tragen, stand zweifellos in Einklang damit, von seinem blödsinnigen Standpunkt des archaischen Bohemiens aus. Doch dann fiel mir eine andere Möglichkeit ein: ›Vielleicht trägt er genau deshalb keine Armbanduhr, weil er einen Handschuh trägt‹, dachte ich, ›den er jedesmal herunterziehen müßte, wenn er einen Blick auf die Uhr werfen wollte. Vielleicht habe ich ihm die Hand tatsächlich auf irreparable Weise zerstört, von dem Schmiß auf der Wange sehe ich allerdings keine Spur. Wie dem auch sei, das Bild gefällt mir nicht, er und seine altertümliche Uhr in der Hand, sein darauf gerichteter Blick, am Ende zählt er noch meine Zeit.‹ Ich wollte das nicht weiter mit ansehen, und als ich mich schon einige Schritte entfernt hatte, dachte ich noch einmal, vielleicht um das Bild zu bannen oder eher um mir Mut zu machen: ›Aber ich weiß jetzt, daß ich ebenfalls fähig bin, die seine zu zählen, in meinem Grimm; ich habe sie schon einmal gezählt und die Zählung angehalten, das weiß er, er hat Glück gehabt, denn ich war drauf und dran, ganz herunterzuzählen. Das wird ihn davon abhalten, uns holen zu kommen. Und wenn er es eines Tages doch tut, werden wir schon sehen, wer als erster seinen Namen weglassen muß.‹
    Mit einer aufgeschobenen Drohung kann man leben, weil sie immer auch nicht eintreten kann, und damit muß man grundsätzlich rechnen. Manchmal sehen wir, was auf uns zukommt, und achten dennoch nicht darauf, und möglicherweise nicht nur aus dem Grund, den Wheeler mir nannte, weil wir die Gewißheit verabscheuten, weil niemand noch wagte, sich zu sagen oder einzugestehen, daß er sieht, was er sieht, das, was oft da ist, stumm vielleicht oder sehr einsilbig, aber offenkundig; weil niemand wissen wollte und man Horror davor hätte, vorher zu wissen, biographischen Horror und moralischen Horror; weil uns allen lieber wäre, totale necios im engeren Sinn zu sein, im lateinischen Sinn des Begriffs, der noch in unseren Wörterbüchern steht: ›unwissend, wer nicht weiß, was er wissen könnte oder wissen sollte‹, das heißt, wer bewußt und mit dem Willen, nicht zu wissen, nicht weiß, wer sich dem Wissen verweigert und das Lernen verabscheut. ›Wer selbstzufrieden ist im Unwissen‹, wie Wheeler mit seiner Pedanterie gesagt hatte, die ich vermisse. Nein, womöglich liegt es auch daran, daß wir befürchten, das Leben mit unseren Vorsichtsmaßnahmen und Vermutungen und unseren Visionen und Wachsamkeiten zu vergeuden, und daß uns nicht verborgen bleibt, daß es zu allem immer ein bekanntes Ende geben wird, und dann, beim Abschied, wenn wir Vergangenheit sind oder unser Ende leicht voranschreitet und schon beharrlich an die Tür klopft, wird uns alles unbedarft und naiv erscheinen: Warum hat sie das getan, wird man von dir sagen, wozu soviel Unruhe und die Beschleunigung ihres Pulses, wozu diese Bewegung und dieser Sprung; und von mir wird man sagen: Warum redete er oder schwieg er und bewahrte so viele Abwesenheiten, wozu dieses Gefühl von Schwindel, so zahlreich die Zweifel und so eine Qual, wozu tat er diese und so viele andere
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