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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Autoren: Javier Marias
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worauf er hinauswollte, auch er oder sein Weg erregten meine Neugier, über die Ablehnung am Ende der Strecke hinaus, die ich voraussah), und so fuhr er fort: »Von dieser Haltung bis dorthin, einen anderen sterben zu lassen, um sich zu retten, ist es nur ein Schritt, und von dort dazu, zu bewirken, daß es der andere ist, der an unserer Statt stirbt, und es sogar zu begünstigen (du weißt ja, er oder ich), ist es nur noch einer mehr, und ein sehr kurzer, und beide tut man leicht, vor allem den ersten, in einer Extremsituation tun ihn fast alle. Warum sonst sterben bei Bränden in Theatern und Diskotheken mehr Leute zerquetscht und zertrampelt als verbrannt oder erstickt, warum gibt es beim Untergang eines Schiffes Leute, die nicht einmal warten, bis das Rettungsboot voll ist, bevor sie es herunterlassen, um sich nur ja rasch und ohne Last zu entfernen, warum existiert überhaupt dieser Ausdruck ›Rette sich, wer kann‹, der voraussetzt, daß man von jeder Rücksicht gegenüber den anderen absieht und plötzlich wieder das Recht des Stärkeren einführt, das uns allen auf natürliche Weise zu eigen ist und zu dem zurückzukehren wir keine Sekunde brauchen, obwohl wir es mehr als ein halbes Leben lang außer Kraft gesetzt oder in Schach gehalten haben? In Wirklichkeit tun wir uns Gewalt an, um ihm nicht in jedem Augenblick und unter allen Umständen zu folgen und zu gehorchen, und doch wenden wir es sehr viel öfter an, als wir uns eingestehen, wenn auch nur verhohlen, mit einem zivilisatorischen Firnis in den Formen oder unter dem Deckmäntelchen anderer respektabler Gesetze und Regeln, langsamer und unter vielen Umwegen und Formalitäten, alles ist mühsamer, aber im Grunde ist es das Gesetz, das gilt, das herrscht. So ist es, denk darüber nach. Zwischen Menschen und zwischen Nationen.«
    Tupra hatte das englische Äquivalent von ›Rette sich, wer kann‹ gesagt, das womöglich noch weniger Skrupel erkennen läßt, ›Every man for himself‹, das heißt ›Jeder für sich‹ oder ›Jeder kümmere sich um seinen Kram‹: Jeder rette seine Haut und schere sich nur um sich selbst, darum, sich wie auch immer in Sicherheit zu bringen, und die anderen, die Schwächsten, die Unbeholfensten, die Naivsten und Dümmsten (auch die Beschützer wie mein Sohn Guillermo) sollen sehen, wie sie zurechtkommen. In diesem Augenblick ist es stillschweigend erlaubt, andere wegzustoßen und umzuwerfen und unter Fußtritten zu überrennen oder dem Unglücklichen mit dem Ruder den Schädel einzuschlagen, der versucht, unser Rettungsboot aufzuhalten und hineinzusteigen, während es schon mit mir und den Meinen dem Wasser entgegenschwebt und niemand mehr hineinpaßt oder wir es nicht teilen oder Gefahr laufen wollen, daß es einer zum Kentern bringt. Obwohl die Situationen unterschiedlich sind, gehört dieser Befehl zur gleichen Familie oder Gattung wie drei andere, die Feuer nach Belieben anordnen, ein Massaker und einen ungeordneten Rückzug, eine Massenflucht: Der eine ermächtigt dazu, ohne Einschränkung und unterschiedslos auf jeden zu schießen, den man erblickt und erwischt, der zweite fordert dazu auf, andere über die Klinge oder das Bajonett springen zu lassen und keine Gefangenen zu machen oder jemanden am Leben zu lassen (›ohne Gnade‹, lautet die Losung, oder noch schlimmer, ›Kopf ab‹), und der dritte drängt, Reißaus zu nehmen, sich ungeordnet und undiszipliniert zurückzuziehen, pêle-mêle im Französischen oder pell-mell in der englischen Lehnbildung, das heißt, in wirrem Durcheinander oder überstürzt; oder aber sich zu versprengen, jeder Soldat womöglich in eine andere Richtung, aber es gibt nicht genug Richtungen, um sie zu trennen, jeder ist nur auf seinen Überlebenswillen konzentriert und achtet nicht auf das Schicksal seiner Kampfgefährten, die nicht mehr zählen und in Wirklichkeit keine mehr sind, obwohl wir noch alle in Uniform stecken und mehr oder weniger die gleiche Angst empfinden in der einzigen Flucht.


    I ch betrachtete Tupra im Licht der Lampen und im Licht des Feuers, letzteres verlieh seiner Haut einen stärker kupferfarbenen Ton als sonst, so als besäße er indianisches Blut – vielleicht waren seine Lippen die eines Sioux, kam mir in den Sinn –, sie war eher von der Farbe des Whiskys als von der Farbe des Bieres. Er war noch nicht ans Ziel gelangt, er hatte seine Wegstrecke erst begonnen, aber er würde sie nicht sehr langsam zurücklegen, und sicher würde er mir früher oder
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