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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Autoren: Javier Marias
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gewesen, das gab es nie, es durchschritt weder die Welt noch setzte es einen Fuß auf die Erde, es existierte nicht und ist nie geschehen.‹ – »Das sind die Leute, von denen du gesprochen hast«, fuhr Reresby fort, der schon seit einer Weile seltsame Anstalten machte, sich zu erheben. »Sie unterscheiden sich nicht sehr von Dick Dearlove, der Deutung nach, die du von ihm geliefert hast. Sie leiden unter erzählerischem Horror, so lautete dein Ausdruck, wenn ich mich recht erinnere, oder Abscheu. Sie fürchten, daß das Ende alles beschmutzt und prägt, eine späte oder letzte Episode, die ihren Schatten auf alles wirft, was vorher war, die es überformt und aufhebt: Man soll ja nicht sagen, ich hätte nicht geholfen, ich hätte mich nicht für die anderen in Gefahr begeben oder für die Meinen geopfert, denken sie in den absurdesten Augenblicken, wenn es niemanden gibt, der sie betrachten könnte, oder diejenigen, die sie sehen, sterben werden, angefangen bei ihnen selbst. Es soll sich ja nicht verbreiten, daß ich ein Feigling war, ein Schurke, ein Aasgeier, ein Mörder, denken sie und fühlen sich dabei von Scheinwerfern ausgeleuchtet, wo doch niemand die Scheinwerfer auf sie richtet oder jemals von ihnen sprechen wird, so unbedeutend sind sie. Sie werden anonyme Lebende und anonyme Tote sein. Sie werden sein, als wären sie nicht gewesen.« Er schwieg eine Weile, nahm einen Schluck von seinem Portwein und fügte hinzu: »Du und ich, wir werden zu denen zählen, die keine Spur hinterlassen, egal, was wir getan haben, niemand wird sich darum bemühen, es zu erzählen, nicht einmal, es herauszufinden. Ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich gehöre nicht zu diesen Leuten, die wie Dearlove sind, auch wenn sie keine Berühmtheiten sind, sondern das genaue Gegenteil. Aber von denen hast du gesprochen. Die unter einer der Varianten des K-M-Komplexes leiden, wie es in unserem Jargon heißt.« Er hielt inne, sah aus dem Augenwinkel ins Feuer und setzte hinzu: »Ich weiß, daß ich unsichtbar bin, und ich werde es noch mehr sein, wenn ich tot bin, wenn ich nur noch vergangene Materie bin. Stumme Materie.«
    »K-M?« fragte ich und überging seine letzten prophetischen oder wahrsagenden Sätze. »Und was heißt das, Töten-Ermorden?« Wir sprachen in dem bei ihm obligaten Englisch, also sagte ich ›Killing-Murdering‹ , so stimmten die Initialen tatsächlich überein.
    »Nein, das heißt es nicht, auch wenn es möglich wäre, darauf war ich nicht gekommen«, antwortete Tupra kaum merklich durch den Rauch lächelnd. »Sondern Kennedy-Mansfield. Den zweiten Namen wollte Mulryan unbedingt haben, Jayne Mansfield hat ihn seit jeher fasziniert, sie war seit seiner Kindheit seine Lieblingsschauspielerin, er wäre jede Wette eingegangen, daß sie in der Erinnerung aller Menschen fortleben würde, und zwar nicht nur aufgrund ihres spektakulären Todes, er hat sich vollkommen geirrt. Tatsächlich war sie der Traum jedes Jungen oder Heranwachsenden, nicht wahr? Und jedes Lastwagenfahrers. Erinnerst du dich an sie? Sicher nicht« – er ließ mir auch jetzt keine Zeit, ihm zu antworten –, »was ein weiterer Beweis dafür wäre, wie unangebracht und unbegründet, wie übertrieben sein ›M‹ für die Bezeichnung dieses Komplexes war. Aber so nennen wir ihn eben schon seit einiger Zeit, so hat es sich eingebürgert, fast immer für den internen Gebrauch. Aber glaub nicht«, korrigierte er sich, »auch einige hohe Beamte haben den Begriff übernommen, von uns angesteckt, und er ist sogar in irgendeinem Buch aufgetaucht.«
    »Ich glaube, daß ich mich doch an Jayne Mansfield erinnere«, sagte ich unter Ausnutzung einer winzigen Pause.
    »Ach ja?« Tupra zeigte sich überrascht. »Na, das Alter dafür hast du, aber ich wußte nicht, ob man in deinem Land diese frivolen Filme sehen konnte. Während der Diktatur.«
    »Das einzige, worin wir nicht isoliert waren, war das Kino, Franco war davon begeistert und hatte seinen eigenen Vorführungssaal in El Pardo, dem Palast, in dem er wohnte. Wir haben fast alle Filme gesehen, bis auf ein paar wenige, die von der Zensur streng verboten waren (nicht ihm natürlich: Er empörte sich gern, wie die Geistlichen, und bestaunte die Verruchtheiten der Außenwelt, vor denen er uns beschützte). Andere führte man gekürzt oder mit veränderten synchronisierten Dialogen vor, aber die meisten kamen ins Kino. Ja, ich glaube, daß ich mich an sie erinnere, an Jayne Mansfield. Nicht, daß ich in
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