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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Autoren: Javier Marias
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Hier ist niemand, komm zurück, mein Gespenst ist fort, du kannst seinen Platz einnehmen und sein Fleisch vertreiben. Es hat sich verflüchtigt, seine Zeit schreitet nicht voran. Was war, ist nicht mehr gewesen. Dann also, vermute ich, bleib für immer hier.‹ Nein, das hat sie mir nicht gesagt und auch nichts Vergleichbares, aber andere Dinge schon, zum Teil verblüffende: In den besten oder entflammtesten oder fröhlichsten Momenten, wenn sie zu mir nach Hause kommt, so wie sie über viele Monate zu Custardoy gegangen sein muß, sagt sie zu mir: ›Versprich mir, daß wir immer so weitermachen werden wie jetzt, daß wir nie wieder zusammenwohnen werden.‹ Vielleicht hat sie recht, vielleicht ist das die einzige Art, wie wir aufmerksam bleiben können: wie wir uns nicht als selbstverständlich nehmen, nicht einmal als anwesend.
    Ich habe nicht vergessen, was Custardoy mir gesagt hat, kein einziges Wort davon, alles, was der menschliche Geist registriert, verbleibt darin, bis das Vergessen einsetzt, aber das Vergessen ist immer unvollkommen; ich habe seine Andeutungen nicht vergessen, oder tatsächlich war es mehr als das (›wie jemand sexuell tickt, das ist ganz individuell‹, hat er mir im Stil eines traditionellen Machos entgegengehalten, und dabei sprach er jeden Satz schleppend wie eine Spieluhr, ›mit manchen Partnern schlägt es voll durch, mit anderen nicht. Dann war es bei dir also nicht so? Na, was soll ich sagen, mein Junge, das habe ich nicht gewußt‹), und bei Gelegenheit bin ich versucht gewesen, Luisa ein klein wenig weh zu tun, beiläufig oder versehentlich, um zu sehen, wie sie es aufnimmt, ob sie es etwa über sich ergehen läßt, mit angehaltenem Atem und ohne Widerrede, um zu erfahren, wie sie darauf reagiert. Aber ich habe mich immer zurückgehalten, und das werde ich auch weiter tun, da bin ich sicher, weil eine solche Handlung gleichbedeutend damit wäre, Custardoy in einem gewissen Maß Glauben zu schenken und mich einem neuen Gift auszusetzen, mit dem von Tupra hatte ich schon genug, oder genauer mit dem von Reresby, in jener Nacht. Und außerdem würde es eine Gefahr darstellen, wenn auch nur eine entfernte: mich selbst auf den Platz des am meisten Gefürchteten zu stellen, des hinterhältigen Typen aus meinen Einbildungen, der vielleicht in einer regnerischen, weltabgeschiedenen Nacht seine großen Hände um ihren Hals schließt – seine Finger sind wie Tasten –, während die Kinder – meine Kinder – aus einer Ecke zusehen, an die Wand gepreßt, als wollten sie, daß sie nachgebe und verschwinde und mit ihr der böse Anblick und das unterdrückte Weinen, das sich Bahn brechen möchte, aber es nicht schafft, der böse Traum und das andauernde, seltsame Geräusch, das ihre Mutter im Sterben von sich gibt. (›Man wünscht es nicht, aber man zieht es immer vor, daß derjenige stirbt, der neben einem ist‹, hatte Reresby in jener Nacht gesagt. ›… Und auch die Geliebte, auch die Geliebte, eher als man selbst.‹) Nein, man darf nicht abgleiten, sich annähern, man darf nicht am Rand der Zeit, der Versuchungen und der Umstände entlanggehen, die endlich irgendeine im Blut – in unserem Blut – getragene Möglichkeit zur Entfaltung bringen können, und die, zu töten, trage ich in mir, das weiß ich jetzt, ich wußte es vorher und weiß es jetzt erst recht. Besser, das alles zu umgehen und Distanz zu wahren, besser es zu meiden und es nicht einmal im Traum zu berühren (›Träume, träume weiter, von Tod und blutigen Taten‹), damit man uns nicht einmal dort sagen kann: ›Diese unselige Luisa, deine Frau, Jacques oder Jacobo oder Jack, Iago oder Jaime, die keine ruhige Stunde schlief bei dir, und wie du dich nennst, ändert nichts daran … Möge ich jetzt wie Blei auf deine Seele fallen, und mögest du den Nadelstich in deiner Brust fühlen: Verzag und stirb.‹ Doch nein, dazu wird es nicht kommen, dazu kommt es nicht. Besser, sich zu entfernen.
    Eines Tages ging ich in seine Gegend, in die von Custardoy, normalerweise meide ich sie, soweit es möglich ist, also nicht sehr gut bei der zentralen Lage. Eigentlich gibt es dazu keinen Grund, aber Orte sind nun einmal durch das geprägt, was man an ihnen getan hat, mehr noch als durch das, was einem dort angetan wurde, und so kommt es zu etwas, das vage – ein bloßer Schatten, ein Imitat, lächerlich, nicht zu vergleichen – dem Haß auf die Orte ähnelt, der räumlichen Rachsucht, die die Nazis gegen das Dorf Lidice
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