Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Frank!«
    Auf sein Rufen folgte keine Reaktion. Seine Stimme wurde lauter.
    »Frank!«
    Die Tür am anderen Ende des Flures wurde geöffnet und eine blonde Frau streckte ihren Kopf heraus.
    »Was schreist du schon wieder Papa? Frank ist nicht da.«
    »Wo steckt er denn schon wieder?«
    »In der Stadt.«
    Sie war Mitte dreißig, hoch gewachsen und entsetzlich dürr. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Sie sah müde aus.
    »In der Stadt, in der Stadt«, äffte Broder die junge Frau nach. »Na gut«, sagte er schließlich, »dann fährst du mich eben zum ›Deichgrafen‹, Meike.«
    »Ich denke gar nicht daran, deine Kneipenbesuche zu unterstützen«, versuchte sie Broder zu widersprechen. »Du weißt, was der Arzt letzten Monat zu dir gesagt hat. Kein Alkohol und mit dem Rauchen sollst du auch aufhören!«
    »Ja, ja, aber wer will schon, dass ich hundert Jahre alt werde? Ihr ja wohl am allerwenigsten. Könnt es ja kaum abwarten, euch den Hof untern Nagel zu reißen!«
    Meike holte tief Luft. Sie kannte zwar die gehässigen Unterstellungen ihres Schwiegervaters, dennoch konnte er sie damit immer wieder zur Weißglut treiben. Sie öffnete gerade den Mund, um etwas darauf zu erwidern, als Broder sich umdrehte und in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, befahl:
    »Zieh dich an und hol die Autoschlüssel. Ich warte vor der Tür.«
    Er ging zurück in sein Zimmer, das rechte Bein leicht nachziehend.

     
    Das Trommeln der Regentropfen gegen die kleinen Scheiben des Küchenfensters weckte ihn auf. Es war stockdunkel. Die Leuchtziffern auf seiner Armbanduhr zeigten kurz nach Mitternacht an.
    Im Dunkeln tastete er sich vorsichtig in Richtung Küchentür, suchte nach dem Lichtschalter. Seine Erinnerungen und sein ausgeprägter Orientierungssinn ließen ihn nicht im Stich. Unter seinen Fingern fühlte er den Kunststoff des Kippschalters.
    Das grelle Licht schmerzte. Tränen schossen ihm in die Augen, er hatte Kopfschmerzen.
    Aus dem Schuhkarton nahm er sich einen der Briefe, stieg dann mit seinem Schlafsack, den er vorsichtshalber mitgebracht hatte, die Treppe zu seinem alten Zimmer hinauf. Die vierte und die neunte Stufe knarrten lauter, als er es in Erinnerung hatte.
    In seinem Zimmer sah alles so aus, als wäre er nie fortgewesen. Achtzehn Jahre waren hier scheinbar spurlos vorübergegangen.
    Er ließ sich auf sein altes Bett fallen und betrachtete die Bücher in den Regalen. ›Winnetou, ›Sherlock Holmes‹, ›Der Graf von Monte Christo‹, dazwischen einige Bücher von Hesse, Böll und Kafka. Neben dem Bücherregal der Schreibtisch mit der roten Stehlampe, an der Wand ein Poster von den Rolling Stones.
    Er rollte den Schlafsack aus, schaltete die kleine Lampe über dem Bett ein und legte sich hin. Im Schein der kleinen Lampe öffnete er den Brief und begann zu lesen:

     
    Lieber Großvater,

     
    nun bin ich schon einige Tage hier bei Onkel Hannes. Ein wenig habe ich mich schon eingelebt, aber Onkel Hannes spricht immer noch nicht sehr viel mit mir.
    Am ersten Tag hat er mir nur kurz erklärt, dass er viel Arbeit hätte und ich deshalb mit anpacken müsste. Ich muss also den Tisch auf- und abdecken, spülen und aufräumen, Holz für den Kamin holen und den Garten in Ordnung halten. Du siehst, hier ist es ganz anders als bei dir. Hier habe ich wenig Zeit zum Spielen.
    Nach dem Frühstück geht Onkel Hannes immer aus dem Haus und kommt erst am späten Nachmittag wieder. Ich habe ihn gefragt, was er für eine Arbeit hat, aber er hat nur gesagt: »Na, Arbeit eben.«
    Bei Tag ist es hier im Haus nicht ganz so finster. Dafür sieht man aber, dass es hier keine Frau Menzel gibt, die zum Saubermachen kommt. Deshalb habe ich gestern die Küche gefegt und aufgewischt, das Geschirr gespült und sogar die Fenster habe ich geputzt. Aber Onkel Hannes ist es nicht einmal aufgefallen. Jedenfalls hat er nichts gesagt. Überhaupt benimmt er sich meistens so, als sei ich gar nicht da. Er spricht sehr wenig. Ich glaube, ich störe ihn. Wenn er doch nur mit mir reden würde. Ich fühle mich so allein.
    Abends ist es immer besonders schlimm. Onkel Hannes geht fast jeden Abend aus. Er sagt mir nicht, wohin er geht oder wann er wieder kommt, so wie du. Er liest mir auch keine Geschichte am Bett vor, wie du es immer tust. Er brummt meist nur ›Gute Nacht‹ und verschwindet dann.
    Ich war so neugierig, wollte unbedingt wissen, wohin er immer geht. Also bin ich ihm heute Nacht einfach gefolgt. Ich habe meine Stiefel angezogen, mir meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher